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1-2-3-4-5-6-7-8-9-10-11-12- zweiter Teil

pascal                               Blaise Pascal

Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets

Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände

 

 Erster Theil:
Gedanken, die sich auf Philosophie, Moral und schöne Wissenschaften beziehn

Sechster Abschnitt.

Schwäche des Menschen. Ungewissheit keiner natürlichen Erkenntniss.

1.

Worüber ich am meisten erstaune, ist zu sehn, daß niemand über seine Schwäche erstaunt. Man thut gar ernsthaft und jeder folgt seinem Verhältniß, nicht weil es wirklich gut ist ihm zu folgen, und weil es so Sitte, sondern als ob jeder zuverlässig wüßte, wo die Vernunft und das Recht sind. Wir finden uns jeden Augenblick getäuscht und mit einer lächerlich Demuth glauben wir: das sei unser Fehler und nicht der Fehler der Kunst, die wir uns immer zu besitzen rühmen. Es ist gut, daß es viel von dergleichen Leuten giebt, um zu zeigen, daß der Mensch der ungereimtesten Meinungen ganz fähig ist, weil er fähig ist zu glauben, er habe nicht jene natürliche und unvermeidliche Schwäche; sondern im Gegentheil er besitze die natürliche Weisheit.

2.

Die Schwäche der menschlichen Vernunft kommt viel mehr bei denen zum Vorschein, die sie nicht kennen, als bei denen, die sie kennen. Wenn man zu jung ist, so urtheil man nicht recht; desgleichen wenn man zu alt ist. Wenn man nicht genug nachdenkt, wenn man zu viel nachdenkt, so wird man eigensinnig, und kann nicht die Wahrheit finden. Betrachten man sein Werk unmittelbar, nachdem man es gemacht, so ist man noch ganz davon eingenommen, betrachtet man es zu lange nachher, so bringt man nicht mehr ein. Für Beschauung der Gemälde giebt es nur einen untheilbaren Punkt, der die rechte Stelle ist sie zu beschauen, die andern sind zu nahe, zu weit, zu hoch, zu niedrig. Die Perspective weist ihn an in der Malerkunst. Aber in der Wahrheit und in der Moral wer mag ihn anweisen?

3.

Jene Meisterin des Irrthums, die man Phantasie nennt und Meinung, ist um so mehr Betrügerin, weil sie es nicht immer ist, denn sie würde die untrügliche Regel der Wahrheit sein, wenn sie die untrügliche Regel der Lüge wäre. Allein, wenn sie auch meistentheils falsch ist, giebt sie gar kein Zeichen ihrer Beschaffenheit, indem sie mit gleichem Merkmal das Wahre und das Falsche bezeichnet.

Diese übermüthige Macht, die Feindin der Vernunft, die sich darin gefällt sie zu controliren und zu beherschen, hat, um zu zeigen wie viel sie in allen Dingen vermag, im Menschen eine zweite Natur geschaffen. Sie hat ihre Glücklichen und Unglücklichen, ihre Gesunden und Kranken, ihre Reichen und Armen, ihre Narren und Weisen und nichts erregt uns größern Widerwillen als zu sehn, daß sie ihre Freude mit viel reicherer und völliger Genüge erfüllt als die Vernunft, indem die Weisen in der Einbildung sich ganz anders in sich selbst gefallen als die wirklich Verständigen sich vernünftiger Weise gefallen können. Sie sehen auf die Menschen hochmüthig herab, sie streiten voll Kühnheit und Zuversicht, die andern voll Furcht und Mißtrauen und jene Fröhlichkeit des Angesicht giebt ihnen oft den Vorzug in der Meinung der Zuhörer; so viel Gunst haben die eingebildeten Weisen bei ihren Beurtheilungen von derselben Gattung. Sie kann die Narren nicht weise machen, aber sie macht sie zufrieden, der Vernunft zum Trotz, die ihre Freunde nur elend machen kann. Jene überhäuft sie mit Ehre, diese bedeckt sie mit Schande.

Wer theilt den Ruf aus? Wer giebt die Achtung und Verehrung den Personen, den Werke, den Großen, wenn nicht die Meinung? Wie sehr sind doch alle Reichthümer der Erde unzureichend ohne ihre Beistimmung!

Die Meinung verführt über alles; sie macht die Schönheit, das Recht und das Glück, was die Welt ihr Alles nennt. Ich möchte gern das Italienische Buch sehn, von dem ich nichts als den Titel kenne, der allein genug Bücher werth ist. Della opinione regina del mondo. Ich unterschreibe es ohne es zu kennen, mit Ausnahme des Schlechten, wenn was darinnen ist.

4.

Die wichtigste Angelegenheit des Lebens ist die Wahl eines Berufs. Der Zufall entscheidet darüber. Die Gewohnheit macht die Maurer, die Soldaten, die Dachdecker. Das ist ein vorzüglicher Dachdecker, sagt man und von den Soldaten sagt man: Sie sind rechte Thoren! und die Andern im Gegentheil sprechen: Es ist nichts groß als der Krieg, alle übrige sind Lumpen. Weil man nun in der Kindheit jene Stände immer so viel loben und die übrigen verachten hört, so wählt man; denn natürlicher Weise liebt man die Tüchtigkeit und haßt Unverstand. Diese Reden regen uns auf und man irrt bloß in der Anwendung und die Gewalt der Gewohnheit ist so groß, daß ganze Landstriche lauter Maurer, andre lauter Soldaten sind. Ganz gewiß ist die Natur nicht so einförmig: also ist es die Gewohnheit, die das macht und die Natur mit zieht. Indessen überwiegt auch die Natur und erhält den Menschen in seinem angebornen Trieb, trotz alter Gewohnheit, sie sei gut oder schlecht.

5.

Wir halten uns an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft voraus, als wäre sie zu langsam und als müßten wir sie beeilen, oder wir rufen die Vergangenheit zurück um sie an zu halten, als wäre sie zu eilig. Wir sind so unverständig, daß wir in den Zeiten herumschweifen, die nicht unser sind und da die einzige, die uns gehört, nicht denken, und wir sind so eitel, daß wir uns in die Zeiten vertiefen, die nicht mehr sind uns die einzige, die ist, ohne Betrachtung entschlüpfen lassen. Das kommt daher, weil die Gegenwart uns gewöhnlich verletzt. Wir verbergen sie vor unserm Blick, weil sie uns betrübt und wenn sie uns angenehm ist, bedauern wir sie entfliehen zu seyn. Wir versuchen sie fest zu halten durch die Zukunft und wir denken die Dinge, die nicht in unsrer Gewalt sind, an zu ordnen für eine Zeit, die zu erreichen wir gar keine Gewißheit haben.

Jeder prüfe seine Gedanken, er wird sie immer mit der Vergangenheiten und mit Zukunft beschäftigt finden. Wir denken fast gar nicht an die Gegenwart und wenn wir an sie denken, geschieht es nur um von ihr Licht zu nehmen für die Anordnung der Zukunft. Die Gegenwart ist nie unser Ziel, die Vergangenheit und die Gegenwart sind unsre Mittel, die Zukunft allein ist unser Zweck. Also wir leben nie, aber wir hoffen zu leben und da wir uns immer einrichten glücklich zu sein, so ist es keinem Zweifel unterworfen, daß wir es nie sein werden, wenn wir nicht nach einer anderen Seligkeit trachten, als nach der, welche man in diesem Leben genießen kann.

6.

Unsre Einbildungskraft vergrößert uns die gegenwärtige Zeit, durch die fortgesetzten Betrachtungen darüber, so stark und verkleinert die Ewigkeit, eben weil sie nicht Betrachtungen darüber anstellt, so sehr, daß wir aus der Ewigkeit ein Nichts machen und aus dem Nichts eine Ewigkeit. Und alles das hat seine so lebendigen Wurzeln in uns, daß alle unsre Vernunft uns nicht dagegen wehren kann.

7.

Cromwell war im Begriff die ganze Christenheit zu verheeren, die königliche Familie war verloren und die seine für immer mächtig, ohne ein kleines Sandkorn, das sich in seinem Harngang ansetzte. Rom stand auf dem Punkt unter ihm zu zittern, da ward dieser kleiner Kies, der sonst nichts war, an diesem Orte angesetzt und er war todt, seine Familie gestürzt und der König wieder eingesetzt.

8.

Man sieht fast nichts Gerechtes oder Ungerechtes, das nicht seine Verschaffenheit änderte, wenn es das Klima ändert. Drei Grade Polhöhe werfen die ganze Jurisprudenz über den Haufen. Ein Meridian entscheidet über die Wahrheit oder wenige Jahre über Besitz. Die Grundgesetze wechseln. Das Recht hat seine Zeiten. Eine schöne Gerechtigkeit, die ein Fluß oder ein Gebirge begrenzt! Wahrheit diesseit der Pyrenäen, Irrthum jenseit.

9.

Diebstahl, Blutschande, Mord der Kinder und der Väter, alles hat seine Stelle gefunden unter den tugendhaften Handlungen. Kann etwas lächerlicher sein, als daß ein Mensch das Recht hat mich zu tödten, weil er jenseit des Wassers wohnt und weil sein Fürst Streit mit dem meinen hat, obgleich ich durchaus keinen ihn?

Es giebt ohne Zweifel natürliche Gesetze, aber diese gute Vernunft, die verdorben ist, hat alles verdorben. Nichts ist mehr unser; was wir unser nennen, gehört der Kunst, nach Rathverordnung und Volksbeschlüssen werden Verbrechen geübt; wie einst an den Lastern, laboriren wir jetzt an den Gesetzen.

Aus dieser Verwirrung entsteht, daß der eine sagt: das Wesen der Gerechtigkeit sei das Ansehn des Gesetzgebers, ein andrer: die Bequemlichkeit des Herrschers, noch ein anderer: die gegenwärtige Gewohnheit und das ist das sicherste, bloß nach der Vernunft ist nichts gerecht an sich; alles wankt mit der Zeit, die Gewohnheit macht alle Billigkeit allein dadurch, daß sie angenommen ist, das ist der geheimnißvolle Grund ihres Ansehns. Wer sie auf ihr Princip zurückführt, vernichtet sie. Nichts ist so fehlerhaft als die Gesetze, welche die Fehler gut machen; wer ihnen gehorcht, weil sie gerecht sind, gehorcht der Gerechtigkeit, die er sich einbildet, aber nicht dem Wesen des Gesetzes, es ist ganz in sich selbst gesammelt, es ist Gesetz und weiter nichts. Wer seinen letzten Grund erforschen will, findet ihn so schwach und leicht, daß er, wenn er sich nicht gewöhnt hat die Wunder der menschlichen Einbildungskraft zu beobachten, in Verwunderung gerathen muß, wie ein Jahrhundert ihm so viel Glanz und Würde verschafft hat. Die Kunst die Staaten um zu stürzen besteht darin, daß man die bestehenden Gewohnheiten erschüttert, indem man sie bis auf ihre Quelle ergründet um da ihren Mangel an Autorität und Gerechtigkeit an zu merken. Man muß zurück gehn sagt man, zu den ersten Grundgesetzen des Staats, die eine ungerechte Gewohnheit abgeschafft hat und das ist ein sichres Spiel um alles zu verlieren; auf der Wage wird nichts richtig sein. Dennoch leiht das Volk diesen Reden gern sein Ohr, es schüttet das Joch ab, sobald es dasselbe erkennt und die Großen haben den Gewinn davon seinem Verderben und zum Verderben jener neugierigen Erforscher der angekommenen Gewohnheiten. Freilich bisweilen fallen die Menschen in den entgegengesetzten Fehler und glauben mit Recht alles thun zu dürfen, was nicht ohne Beispiel ist. Daher sagte der weiseste der Gesetzgeber: zum Wohl des Menschen müsse man oft ihn täuschen und ein anderer guter Politiker sagt: Wenn er die Wahrheit, wodurch er frei werden soll, nicht kennt, so ists gut ihn zu täuschen. Er muß nicht merken die Wahrheit der Usurpation, sie ist vor Alters ohne Grund eingeführt worden; man muß sie ansehn lassen als rechtsgültig, ewig und muß ihren Anfang verbergen, wenn man nicht will, daß sie bald ein Ende nehme.

10.

Stellt den größten Philosophen der Welt auf eine Planke, breiter als er braucht um auf seine gewöhnliche Weise zu gehen, wenn darunter ein Abgrund ist, so mag seine Vernunft ihm noch so sehr Sicherheit nachweisen, die Einbildungskraft wird doch überwiegen. Viele könnten nicht einmal den Gedanken daran aushalten ohne bleich zu werden und zu schwitzen; ich will nicht alle Wirkungen davon anführen. Wer weiß nicht, daß es Menschen giebt, denen der Anblick von Katzen, Ratten, das Zerdrücken einer Kohle die Vernunft aus der Fassung bringt?

11.

Möchtet ihr nicht behaupten, daß jener Richter, dessen würdiges Alter einem ganzen Volk Ehrfurcht gebietet, sich mit einer reinen und erhabenen Vernunft beherschet und die Dinge nach ihrer Natur beurtheilt, ohne sich bei den eiteln Umständen auf zu halten, welche nur die Einbildungskraft der Schwachen verletzten? Geht ihn eintreten in die Räume wo er das Recht verwalten soll. Da sitzt er bereit zu hören mit einer exemplarischen Gravität. Wenn der Anwalt zum Vorschein kommt und die Natur hat ihm etwa eine heisere Stimme gegeben und ein seltsames Gesicht oder sein Barbier hat ihn schlecht rasiert und der Zufall hat ihn noch beschmutzt, so wette ich: alle Gravität des Richters ist fort.

12.

Der Geist des größten Mannes in der Welt ist nicht so unabhängig, daß er nicht gestört werden könnte durch den geringsten Lärm in seiner Nähe. Um seine Gedanken zu hindern, dazu ist nicht das Knallen einer Kanone nöthig, sondern nur das Knallen einer Wetterfahne oder einer Winde. Verwundert euch nicht, daß er diesen Augenblick nicht vorzüglich urtheilt, eine Fliege um seine Ohren, das ist genug um ihn zu gutem Urtheil unfähig zu machen. Wenn ihr wollt, daß er im Stande sei die Wahrheit zu finden, jagt das Thier weg, das seine Vernunft im Schach hält und jene mächtige Einsicht trübt, die Städte und Königreiche regiert.

13.

Der Willen ist eins der vorzüglichsten Werkzeuge des Glaubens, nicht daß er den Glauben bildet, sondern weil die dinge wahr oder falsch erscheinen, je nachdem man sie von der einen oder andern Seite betrachtet. Der Willen, welchem die eine besser gefällt als die andre, wendet den Geist davon ab, die Eigenschaften der Seite, die er nicht liebt, zu beschauen, und so macht, der Geist mit dem Willen gemeinschaftliche Sache und verweilt dabei, Die Seite, welche dieser liebt, zu betrachten, urtheilt nach dem, was er hier sieht und regelt unmerklich seinen Glauben nach der Neigung des Willens.

14.

Wir haben noch einen andern Grund des Irrthums, nämlich die Krankheiten. Sie verderben und das Urtheil und den Sinn, und wenn die großen Krankheiten ihn merklich ändern, so zweifle ich nicht, daß die kleinen nach Verhältniß auf ihn Eindruck machen.

Unser eigner Vortheil ist auch ein wundervolles Werkzeug um uns die Augen zu blenden. Die Neigung oder der Haß ändern die Gerechtigkeit. Wahrhaftig ein Advokat, der gut voraus bezahlt worden ist, wieviel gerechter findet er die Sache, die er vertheidigt! Dagegen weiß ich andre, die aus einer andern Sonderbarkeit des menschlichen Geistes, um nicht in jene Eigenliebe zu verfallen, ganz verkehrt die Ungerechtesten von der Welt gewesen sind. Das sicherste Mittel eine ganz gerechte Sache zu verderben war das, sie ihnen durch ihre nächsten Verwandten empfehlen zu lassen.

15.

Die Einbildungskraft vergrößert oft die kleinsten Gegenstände durch eine phantastische Schätzung, so daß sie gar damit unsre Seele füllt und mit vermessenem Uebermuth verkleinert sie die größten bis zu unserm Maß.

16.

Die Gerechtigkeit und die Wahrheit sind zwei so feine Spitzen, daß unsre Instrumente zu stumpf sind, um sie genau zu berühren. Wenn sie ankommen, so machen sie die Spitze glatt und ruhen rund herum, mehr auf dem Falschen als auf dem Wahrheit.

17.

Die alten Eindrücke sind nicht allein im Stande uns zu erfreuen, die Reize der Neuheit haben dieselbe Kraft.

Daher kommen alle Streitigkeiten der Menschen, die sich einander verwerfen, daß sie entweder den falschen Eindrücken ihrer Kindheit folgen oder leichtsinnig den neuen nachlaufen.

Wer hält die rechte Mitte? Er zeige sich und beweise es. Es giebt keinen Grundsatz, wie natürlich er auch sein möge, selbst von der Kindheit her, den man nicht ausgebe für einen falschen Eindruck bald der Erziehung, bald der Sinne. Weil du, sagst man, von Kindheit an geglaubt hast, daß ein Kasten leer war, wenn du nichts darin sahst, so hast du das Leer für möglich gehalten, das ist eine Täuschung deiner Sinne, welche die Gewohnheit befestigt hat und welche Wissenschaft widerlegen muß. Und die andern sagen im Gegentheil: Weil man dir in der Schule gesagt, daß es nichts Leeres giebt, so hat man deinen gefunden Menschenverstand verdorben, der es so deutlich begriff, ehe jener schlechte Eindruck auf dich gemacht wurde, den mußt du widerlegen und zu deiner ersten natürlichen Ansicht zurückkehren. Wer hat dich dann betrogen, die Sinne oder die Erziehung?

18.

Alle Beschäftigungen der Menschen gehen darauf hin Gut zu erlangen und der Titel unter dem sie es besitzen, ist seinem Ursprunge nach nur ein Einfall derer, welche die Gesetze gemacht haben. Sie haben auch durchaus keine Gewalt es sicher zu besitzen, tausend Zufälle rauben es ihnen. Eben so ist es mit der Wissenschaft, die Krankheit nimmt sie uns.

19.

Was sind unsre natürlichen Grundsätze anders als unsre angewöhnten Grundsätze? bei den Kindern sind es die, welche sie durch die Angewöhnung ihrer Väter angenommen haben, wie das Jagen bei den Thieren.

Eine verschiedene Gewohnheit wird andre natürliche Grundsätze geben. Das lernt man aus Erfahrung. Und giebt es natürliche Grundsätze, welche die Gewohnheit nicht auslöschen kann, so giebt es auch Grundsätze aus der Gewohnheit, welche die Natur nicht auszulöschen vermag. Das hängt von der Disposition ab.

Die Väter fürchten, daß die natürliche Liebe der Kinder erlösche, Was für eine Natur ist das denn, die zu erlöschen im Stande ist? Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste zerstört. Warum ist die Gewohnheit nicht natürlich? Ich fürchte sehr, daß diese Natur selbst eine erste Gewohnheit sei, wie die Gewohnheit eine zweite Natur ist.

20.

Wenn wir alle Nächte dieselbe Sache träumten, so würde sie uns vielleicht eben so viel Eindruck machen als die Gegenstände, die wir alle Tage sehn. Und wenn ein Handwerker gewiß wäre alle Nächte zwölf Stunden lang zu träumen, daß er König ist, ich glaube er würde beinahe eben so glücklich sein als ein König, der alle Nächte zwölf Stunden lang träumte, daß er ein Handwerk wäre. Träumten wir alle Nächste, daß wir von Feinden verfolgt und von ängstlichen Trugbildern umhergetrieben würden und brächten wir alle Tage in verschiedenen Beschäftigungen hin, wie wenn man eine Reise macht, so würden wir fast eben so viel leiden, als wenn das wirklich wäre und würden uns scheuen zu schlafen, wie man das Erwachen scheut, wenn man fürchtet wirklich in solche unglücklichen Zustände ein zu treten. In der That diese Träume würden uns fast dieselben Leiden bereiten wie die Wirklichkeit. Aber weil die Träume alle verschieden sind und wechseln, so macht das, was wir in ihnen sehen, viel weniger Eindruck auf uns, als was wir wachend sehen, da dieses ununterbrochen anhält. Freilich ist es nicht so anhaltend und gleich, daß es nicht auch wechsele, aber das geschieht doch weniger rasch, außer in seltenen Fällen, wie wenn man reist und dann sagt man: Mir ist als träume ich. Denn das Leben ist ein Traum, nur etwas weniger unbeständig.

21.

Wir setzen voraus, daß alle Menschen die Gegenstände, die sich ihnen darbieten, auf gleiche Art auffassen und empfinden; aber wir setzen das ohne eigentlichen Grund voraus, denn wir haben gar keinen Beweis dafür. Ich weiß wohl, daß man dieselben Worte bei denselben Gelegenheiten gebraucht und daß allemal, wenn zwei Menschen z.B. den Schnee sehen, alle beide den Anblick Gegenstandes mit denselben Worten ausdrücken, indem sie einer wie der andre sagen: er ist weiß; und aus dieser Gleichmäßigkeit des Gebrauchs gewinnt man eine mächtige Vermuthung von Gleichmäßigkeit der Ideen, aber das ist nicht unbedingt beweisen, obgleich sich für die Bejahung wohl wetten ließe.

22.

Sehen wir eine Wirkung immer auf dieselbe Weise erfolgen, so schließen wir auf eine natürliche Nothwendigkeit wie z.B. daß morgen ein Tag sein wird u.s.w. aber oft straft die Natur uns Lügen und befolgt nicht ihre eigenen Gesetze.

23.

Manchen Dingen, die gewiß sind, wird widersprochen, manche falsche läßt man ohne Widerspruch hingehn, so ist weder der Widerspruch ein Zeichen von Unwahrheit noch die Widerspruchslosigkeit ein Zeichen von Wahrheit.

24.

Wer recht unterrichtet ist, begreift, daß fast alle Dinge, da die Natur den Stempel ihres Urhebers in allen eingegraben trägt, etwas von seiner zwiefachen Unendlichkeit sind in der Ausdehnungen. Denn wer zweifelt daran, daß die Mathematik z.B. eine unendliche Zahl von Sätzen auf zu stellen hat? Eben so unendlich ist sie Anhäufung und Schärfung der Gründe für diese Sätze; denn wer sieht nicht, daß die Gründe, welche man als die letzten aufstellt, nicht für sich selbst stehen, sondern auf andern gestützt sind, die wieder anderer zur Stütze haben, und nie einen den letzten sein lassen?

Man sieht auf den ersten Blick, daß die Arithmetik allein unzählige Gründe liefert und jede Wissenschaften desgleichen.

Aber da die Unendlichkeit im Kleinen viel weniger sichtlich ist, haben die Philosophen um so eher gemeint dahin zu gelangen und da eben sind sie alle gestolpert. Das hat zu jenen so gewöhnlichen Titeln Anlaß gegeben, »von den Principien der Dinge« »von den Principien der Philosophie« und zu andern ähnlichen die, wenn auch nicht dem Scheine nach, doch in der That eben so hochfahren sind als der in die Augen springende »de omni scibili«.

laßt uns denn keine Sicherheit und Gewißheit suchen. Unsre Vernunft wird immer betrogen durch die Unbeständigkeit der Erscheinungen; nichts kann die Endlichkeit fixiren zwischen den beiden Unendlichkeiten, die sie einschließen und sie fliehen. Wenn man das recht gefaßt hat, wird man glaube ich, in Ruhe bleiben, jeder indem Stande, wohin die Natur ihn gestellt hat. Da diese Mitte, die uns zugefallen, immer von den Extremen gleich absteht, was ist daran gelegen, daß der Mensch ein wenig mehr Erkenntniß der Dinge hat? Wenn er sie hat, nimmt er die Dinge ein[146] wenig höher. Ist er aber nicht doch immer noch unendlich fern von den Extemen? Und die Dauer unsres längsten Lebens ist sie nicht unendlich fern von der Ewigkeit?

Im Vergleich mit diesen Unendlichkeiten sind alle Endlichkeiten gleich und ich sehe nicht, warum seine Einbildungskraft mehr auf der einen als auf der andern der andern ruhen lassen soll. Schon allein die Vergleichungen, die wir zwischen uns und dem Endlichen anstellen mach uns Pein.

25.

Die Wissenschaften haben zwei Extreme, die sich berühren, das erste ist die reine natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen befinden, so weit sie geboren werden. Das andre Extrem ist dasjenige, wohin die großen Geister gelangen, die alles, was die Menschen wissen können, durchgemacht haben und finden, daß sie nichts wissen und sich in derselben Unwissenheit begegnen, von der sie ausgegangen. Aber das ist eine wissende Unwissenheit, die sich selbst kennt. Diejenigen, welche zwischen beiden Extremen in der Mitte schweben, die aus der natürlichen Unwissenheit herausgetreten sind und zu der andern doch nicht gelangen konnten, haben einen Abstrich von jener genügenden Wissenschaft und machen die Klugen. Diese eben verwirren die Welt und urtheilen schlechter über alles als die andern. Das Volk und die Klugen ordnen gewöhnlich den Gang der Welt, die andern verachtet die Welt und werden von ihr verachtet.

26.

Man hält sich natürlich viel eher fähig, zum Mittelpunkt der Dinge zu gelangen als ihren Umkreis zu umfassen. Die sichtbare Ausdehnung der Welt überragt uns sichtbar; dagegen weil wir die kleinen Dinge überragen, halten wie uns eher fähig sie zu fassen sie zu fassen und doch gehört nicht weniger Fähigkeit dazu um bis zum All. Sie muß bei dem einen wie bei dem andern unendlich sein und wer die letzten Gründe der Dinge begriffen hätte, der würde, scheint mir, auch bis zur Erkenntniß des Unendlichen gelangen können. Eins hängt vom andern ab und eins führt zum andern. Die Extreme berührten sich und vereinigen sich, je weiter sie sich entfernt haben und finden wieder in Gott und in Gott allein.

Wenn der Mensch damit anfinge sich selbst zu erforschen, so würde er sehen, wie sehr er unfähig ist darüber hinaus zu gehen. Wie wäre es möglich, daß ein Theil das Ganze könnte? Vielleicht wird er trachten wenigstens die Theile zu kennen, mit denen er im Verhältniß steht. Aber die Theile der Welt haben alle eine solche Beziehung und eine solche Verkettung unter einander, daß ich es unmöglich halte den einen zu kennen ohne den andern und ohne das Ganze.

Der Mensch z.B. hat Beziehung zu allen, was er kennt. Er braucht des Raums um ihn aufzunehmen, der Zeit um zu dauern, der Bewegung um zu leben, der Urstoffe um ihn zusammen zu setzen, der Wärme und der Nahrungsmittel um ihn zu nähern, der Luft um zu athmen. Er sieht das Licht, er fühlt die Körper, genug alles kommt mit ihm in Verbindung.

Also um den Menschen zu kennen muß man wissen, woher es kommt, daß er der Luft bedarf um zu bestehn und um die Luft zu kennen, muß man wissen, wie sie Bezug hat auf das Leben des Menschen.

Die Flamme besteht nicht ohne die Luft, also um die eine zu kennen muß man die andre kennen.

Also da alle Dinge gewirkt sind und wirkend, mittelbar und unmittelbar und alle sich gegenseitig halten durch ein natürliches und unfühlbares Band, das die fernsten und verschiedensten zusammenknüpft, so scheint es mir unmöglich die Theile zu kennen ohne das Ganze und eben so das Ganze zu kennen ohne die Theile im Einzelnen.

Und was vielleicht unser Unvermögen die Dinge zu erkennen noch vollendet, ist, daß sie an sich einfach sind und wir zusammengesetzt aus zwei entgegengesetzten und verschiedenartigen Naturen, aus Seele und Leib; denn unmöglich ist der Theil, der in uns denkt, anders als geistig und wenn man behauptet wollte, daß wir bloß körperlich wären, so würde uns das noch vielmehr von der Erkenntniß der Dinge ausschließen, denn es wäre nichts so unbegreiflich als die Behauptung, daß die Materie sich selbst zu erkennen vermöge.

Diese Zusammensetzung von Geist und Körper hat gemacht, daß fast alle Philosophen die Begriffe der Dinge durcheinander geworfen haben und den Körpern zugeschrieben was nur den Geistern zukommt, und den Geistern was nur den Körpern zukommen kann. Denn sie sagen dreist, daß die Körper nach unten streben, nach dem Mittelpunkt trachten, ihre Zerstörung fliehen, das Leere fürchten, Neigungen, Sympathien, Antipathien haben, alles Dinge, die nur den Geistern zukommen. Und wenn sie von den Geistern reden, betrachten sie sie als an einem Ort und schreiben ihnen die Bewegung von einer Stelle zur andern zu, Dinge, die nur den Körpern zukommen u.s.w.

Statt die Begriffe der dinge in uns auf zu nehmen, färben wir mit den Eigenschaften unsers zusammengesetzten Wesens alle die einfachen Dinge, die wir betrachten.

Wer sollte nicht glauben, wenn er nur alle Dinge aus Geist und Körper zusammensetzen sieht, daß diese Mischung uns sehr begreiflich sein müßte? Dennoch ist dies gerade was man am Wenigsten begreift. Der Mensch ist für sich selbst der wunderbarste Gegenstand der Natur, denn er kann nicht fassen, was Körper ist und noch weniger, was Geist ist und noch weniger als irgend etwas, wie ein Körper mit einem Geist vereint sein kann. Das ist der Gipfel des Unbegreiflichen für ihn und doch ists sein eignes Wesen. »Die Art, wie der Geist mit den Körpern verbunden ist, kann von den Menschen nicht begriffen werden und doch ist das der Mensch.«


 

27.

Der Mensch ist also nichts als ein Wesen voll Irrthümer, die unvertilgbar sind ohne die Gnade. Nichts zeigt ihm die Wahrheit, alles täuscht ihn. Die beiden Erkenntnißquellen der Wahrheit, die Vernunft und die Sinne, noch außerdem, daß es ihnen oft an Aufrichtigkeit fehlt, täuschen sich gegenseitig ein das andre. Die Sinne täuschen die Vernunft durch falschen Schein und denselben Betrug, den sie ihr spielen, erfahren sie ihrerseits von ihr; sie rächt sich dafür, die Leidenschaften der Seele verwirren die Sinne und machen widerwärtige Eindrücke auf sie, sie lügen und betrügen sich um die Wette.

 

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“... Pascal; in seinen Pensées finden sich die tiefsten Blicke.”  (Hegel)

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