SCHELLING : Quelle der ewigen Wahrheiten II
Anlaß der Fragestellung
Dieser Anlaß also war, dass ewige, d.h. notwendige Wahrheiten ihre Sanktion nicht von dem göttlichen Willen haben konnten; bloß durch göttliches Gefallen festgestellt, waren sie zufällige Wahrheiten, die ebensogut auch Nichtwahrheiten sein konnten; es mußte also eine vom göttlichen Willen unabhängige Quelle derselben anerkannt werden, und ebenso mußte es etwas vom göttlichen Willen Unabhängiges sein, worin die Möglichkeiten der Dinge ihren Grund hatten. Zwar für Thomas von Aquino war die Möglichkeit noch in der essentia divina selbst, nämlich in der als participabilis s. imitabilis gedachten; eine Vorstellung, wovon sich die Spur noch bei Malebranche findet. In den Ausdrücken erkennt man leicht die platonische methexis und die mehr von Pythagoreern gebräuchliche mimêsis. Aber wer sieht nicht zugleich, dass hier die Fähigkeit der Dinge, an dem göttlichen Wesen teilzunehmen oder es nachzuahmen — worin die Möglichkeit der Dinge bestehen würde — dass dieser eine Fähigkeit des göttlichen Wesens, an sich teilnehmen oder sich nachahmen zu lassen, untergeschoben wird, womit die Möglichkeit auf seifen der Dinge nicht erklärt wäre. Unausbleiblich also war die Anerkennung einer ursprünglichen, nicht bloß vom göttlichen Willen, sondern auch vom göttlichen Wesen unabhängigen Möglichkeit der Dinge. Eine solche behaupteten die Scotisten, gezwungen dadurch, wie ein Anhänger von Leibniz sich ausdrückt, coacti admittere principium realitatis essentiarum nescio quod a Deo distinctum eique coaeternum et connecessarium, ex quo essentiarum pendeat necessitas et aeternitas. Dieses nescio quod hätte sich übrigens selbst nach den von Scotus gebrauchten Ausdrücken bis zu einem gewissen Punkt wohl überwinden lassen. Scotus sprach von einem ente diminuto, in quo possibile constitutum sit. Ens diminutum soll in dem Latein des Scotus unstreitig nichts anderes bezeichnen, als was nur in untergeordnetem Sinne das Seiende zu nennen ist, wie auch Aristoteles das prôtôs on, das erstlich Seiende, von dem bloß hepomenôs on, von dem was bloß als Folge und Mitgesetztes eines anderen ist, das energeia on von dem bloß hylikôs on unterscheidet und letzteres dem dynamei on oder dem mê on gleichsetzt (wohl zu unterscheiden von dem ouk on, dem ganz und gar nicht seienden). Über die materielle Natur also jenes Mitgesetzten blieb wohl kein Zweifel. Das Ungelöste und bis in unsre Zeit ungelöst Gebliebene lag nicht in der Beschaffenheit, sondern darin, dass jenes der eignen Natur nach bloß Seienkönnende doch irgend ein Verhältnis zu Gott haben mußte. Es kam nun aber Descartes, der den Knoten zerhauend auf seine Weise, nämlich hastig, das Gegenteil aussprach: die mathematischen wie die andern sogenannten ewigen Wahrheiten seien von Gott festgesetzt und vom göttlichen Willen nicht anders abhängig als alle andern Kreaturen. (Die eignen Worte des Descartes sind in einem seiner Schreiben folgende: Metaphysicas quaestiones in Physica mea attingam, praesertim vero hanc: veritates mathematicas, quas aeternas appellas, fuisse a Deo stabilitas et ab illo pendere non secus quam reliquas creaturas). Man könnte versuchen, die Worte so auszulegen, als solle nur die Unabhängigkeit der ewigen Wahrheiten von der göttlichen Erkenntnis widerlegt werden, entgegen denjenigen Scotisten, welche lehrten: d ie ewigen Wahrheiten würden bestehen, auch wenn gar kein Verstand wäre, nicht einmal der göttliche. Allein dieser Auslegung widerspricht eine andere Äußerung des Philosophen, folgende: In Deo unum idemque est velle et cognoscere, ita ut hoc ipso quod aliquid velit ideo cognoscat, et ideo tantum (nämlich weil er es will) res est vera.
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