Gegenstand der Untersuchung
Die Frage, über welche ich heute zu sprechen beabsichtige, hat schon die Philosophie des Mittelalters beschäftigt, wie sie rückwärts zusammenhängt mit den größten Untersuchungen des philosophierenden Altertums. Wieder aufgenommen von Descartes und von Leibniz, ist sie durch die neue von Kant eingeleitete, aller Unterbrechungen und augenblicklichen Verfälschungen ungeachtet, von ihrem wahren Ziel noch nicht abgebrachte philosophische Bewegung ebenfalls in ein neues Stadium getreten und vielleicht der Entscheidung näher gebracht worden. Die Frage, die ich meine, bezieht sich auf die sogenannten ewigen oder notwendigen Wahrheiten, insbesondere auf die Quelle derselben; doch war dies der einfachste Ausdruck; im vollständigeren handelte es sich de origine essentiarum, idearum, possibilium, veritatum aeternarum; dies alles wurde als dasselbe betrachtet. Denn 1. was die Wesenheiten betrifft, so galt es als unwidersprochener Grundsatz: essentias rerum esse aeternas. Zufälligkeit (contingentia) bezieht sich stets nur auf die Existenz der Dinge, zufällig ist die hier, an diesem Ort, oder jetzt, in diesem Augenblick, existierende Pflanze, notwendig aber und ewig ist die Wesenheit der Pflanze, nicht anders sein könnend, sondern nur so oder gar nicht. Hieraus erhellt von selbst, dass die essentiae rerum auch dasselbe sind mit den mehr oder weniger platonisch gedachten Ideen. Da ferner bei der Wesenheit die Wirklichkeit nicht in Betracht kommt, indem die Wesenheit dieselbe bleibt, die Sache mag wirklich vorhanden sein oder nicht, wie sich die Wesenheit eines Kreises nicht im Geringsten dadurch ändert, dass ich einen Zirkel wirklich beschreibe: so ist hieraus begreiflich, dass das Reich der Wesenheit auch das Reich der Möglichkeiten, und was nur so möglich, notwendig so ist. Dies führt von selbst auf den vierten Ausdruck der notwendigen oder ewigen Wahrheiten. Gewöhnlich wird dies nur auf die mathematischen bezogen. Aber der Begriff ist viel weiter. Denken wir uns, wie Kant, die höchste Vernunftidee als Inbegriff aller Möglichkeiten, so wird es auch eine Wissenschaft geben, die diese Möglichkeit unterscheidet und erkennbar macht, indem sie denktätig dieselben aus der Potentialität heraustreten und in Gedanken wirklich werden läßt, wie die Mathematik tut, wenn sie das was in einer Figur, z.B. dem rechtwinkligen Dreieck, bloß potentiâ (dem Vermögen nach) ist, wie das Verhältnis der Hypotenuse zu den Katheten, wenn sie, sage ich, dieses findet, indem die Denktätigkeit (ho nous energêsas) es zum Aktus erhebt. Phaneron, sagt Aristoteles, hoti ta dynamei onta eis energeian anagomena heurisketai (Offenbar ist, dass das bloß der Potenz nach seiende durch Überführung in Aktus gefunden wird). Dies ist der Weg aller reinen oder bloßen Vernunftwissenschaft. In der höchsten Vernunftidee wird nun unstreitig auch die Pflanze prädeterminiert, und es wird nicht absolut unmöglich sein, von den ersten Möglichkeiten aus, die sich noch als Prinzipe darstellen, zu der schon vielfach bedingten und zusammengesetzten Möglichkeit der Pflanze fortzuschreiten. Es wird, sage ich, nicht absolut unmöglich sein. Denn es handelt sich hier überhaupt nicht um das uns, sondern um das an sich Mögliche; das uns Mögliche ist überall von vielen sehr zufälligen Bedingungen abhängig; für solche Ableitungen ist uns die Beihilfe der Erfahrung unentbehrlich (ein höherer Geist könnte sie vielleicht entbehren): die Erfahrung ist eine immer fortschreitende, nie abgeschlossene, und auch das Maß der Anwendung unserer an sich beschränkten geistigen Fakultäten gar sehr von Zufällen bedingt. Angenommen nun aber, was im Allgemeinen als möglich anzunehmen ist und nie aufgegeben werden darf, dass von der höchsten Vernunftidee bis zur Pflanze als notwendigem Moment derselben ein stetiger Fortschritt zu finden sei: so ist die Pflanze in diesem Zusammenhang nichts Zufälliges mehr, sondern selbst eine ewige Wahrheit, und ich will nicht aussprechen, wie man über den — Naturforscher urteilen müßte, dem dies gleichgültig wäre und — dessen Forschungen nicht von dem beständigen Bewußtsein begleitet wären, dass er, womit immer beschäftigt, nicht mit einer bloß zufälligen und für die Vernunft nichts werten Sache, sondern mit einer solchen zu tun habe, die in dem großen, wenn auch ihm unübersehbaren Zusammenhang eine notwendige Stelle und damit eine ewige Wahrheit hat.
Nachdem ich auf diese Weise die Ausdehnung des Gegenstandes der Frage gezeigt zu haben glaube, komme ich auf den Anlaß, und werde zunächst anführen, wodurch die Scholastiker bestimmt worden, sich nach der Quelle der ewigen Wahrheiten umzusehen.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
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