abcphilde archiv                                                                                                                             manfred herok   2014 

SCHELLING:   Quelle der ewigen Wahrheiten Schluss
Einheit von Sein und Denken

Gott enthält in sich nichts als das reine Daß des eigenen Seins; aber dieses, dass er Ist, wäre keine Wahrheit, wenn er nicht Etwas wäre — Etwas freilich nicht im Sinn eines Seienden, aber des alles Seienden —, wenn er nicht ein Verhältnis zum Denken hätte, ein Verhältnis nicht: zu einem Begriff, aber zum Begriff aller Begriffe, zur Idee. Hier ist die wahre Stelle für jene Einheit des Seins und des Denkens, die einmal ausgesprochen auf sehr verschiedene Weise angewendet worden. Denn es ist leicht von einem System, das man nicht übersieht und das vielleicht übrigens auch noch weit entfernt ist von der nötigen Ausführung, einzelne Fetzen abzureißen, aber es ist schwer, mit solchen Fetzen seine Blöße zu decken und sie darum nicht an der unrechten Stelle anzuwenden.
Es ist ein weiter Weg bis zum höchsten Gegensatz, und jeder, der von diesem sprechen will, sollte sich zweimal fragen, ob er diesen Weg zurücklegt.
Die Einheit, die hier gemeint ist, reicht bis zum höchsten Gegensatz; das ist also auch die letzte Grenze, ist das, worüber man nicht hinaus kann.
In dieser Einheit aber ist die Priorität nicht auf seifen des Denkens; das Sein ist das Erste, das Denken erst das Zweite oder Folgende. Es ist dieser Gegensatz zugleich der des Allgemeinen und des schlechthin Einzelnen.
Aber nicht vom Allgemeinen zum Einzelnen geht der Weg, wie man heutzutag allgemein dafür zu halten scheint. Selbst ein Franzose, der sich übrigens um Aristoteles Verdienste erworben, schließt sich dieser allgemeinen Meinung an, indem er sagt:
le général se réalise en s'individualisant.
Es möchte schwer sein zu sagen, woher dem Allgemeinen die Mittel und die Macht komme, sich zu realisieren.
Zu sagen ist vielmehr: dass das Individuelle, und zwar am meisten das es im höchsten Sinne ist, dass das Individuelle sich realisiert, d.h. sich intelligibel macht, in den Kreis der Vernunft und des Erkennens eintritt, indem es sich generalisiert, d.h. indem es das allgemeine, das alles begreifende Wesen zu Sich macht, sich mit ihm bekleidet. Könnte man heutzutage noch über irgend etwas verwundert sein, so müßte man es darüber sein, auch den Platon, den Aristoteles auf jener Seite genannt zu hören, wo das Denken über das Sein gesetzt wird.
Platon? — nun ja, wenn man jene einsame Stelle im sechsten Buch der Republik übersieht, wo er von dem agathon, d.h. von dem Höchsten in seinen Gedanken, sagt:
ouk ousias ontos tou agathou all' eti epekeina tês ousias presbeia kai dynamei hyperechontos, also,
dass das Höchste nicht mehr ousia, Wesen,
Was ist, sondern noch jenseits des Wesens, das an Würde und Macht ihm Vorangehende. Selbst das Wort presbeia, das in erster Bedeutung Alter, erst in zweiter Ansehen, Vorrecht, Würde bezeichnet, ist nicht umsonst gewählt, sondern um selbst die Priorität vor dem Wesen auszudrücken.
Wenn man also diese Stelle übersieht, könnte es scheinen,
als gebe Platon dem Denken den Vorrang über das Sein.
Aber Aristoteles? Aristoteles, dem die Welt vorzüglich die Einsicht verdankt, dass nur das Individuelle existiert, dass das Allgemeine, das Seiende nur Attribut ist (katêgorêma monon), nicht selbst-Seiendes, wie das, was allein prôtôs, zuerst sich setzen läßt
— Aristoteles, dessen Ausdruck: hou hê ousia energeia allein allen Zweifel niederschlagen würde; denn hier ist ousia was sonst dem Aristoteles das ti estin, das Wesen,
das Was,
und der Sinn ist, dass in Gott kein Weis,
kein Wesen vorausgeht, an die Stelle des Wesens
der Aktus tritt, die Wirklichkeit dem Begriff, dem Denken zuvorkommt.
Diesem absoluten Dass in Gott kann dann aber nur das absolute Was entsprechen. Wie aber beide aneinander gekettet sind, dafür bedarf es noch des bestimmteren Ausdrucks.
Gott ist das allgemeine Wesen, die Indifferenz aller Möglichkeiten, er ist dies nicht zufälliger, sondern notwendiger und ewiger Weise, er hat es an sich, diese Indifferenz zu sein, an sich in dem Sinn, wie man wohl von einem Menschen sagt, dass er etwas an sich habe, um auszudrücken, dass er es nicht gewollt, ja zuweilen sogar, dass er nicht darum wisse.
Aber eben darum, weil Gott jenes andere ohne sein Zutun, nicht gewollter, also in Ansehung seiner selbst zufälliger Weise ist,
ist es ein zu ihm Hinzugekommenes, ein symbebêkos im aristotelischen Sinn, zwar ein notwendiges,
ein autô kath hauton hyparchon, aber das ihm doch nicht im Wesen ist (mê en tê ousia on), wogegen ihm also (was zwar nicht hierher gehört, aber der Folge wegen wichtig ist) auch das Wesen frei bleibt.
Aristoteles erläutert ein solches nicht im Wesen und doch an sich Haben durch ein aus der Geometrie hergenommenes Gleichnis.
Dass die Winkel eines Dreiecks zusammen = zwei Rechten, ist zwar ein dem Dreieck kath' hauto hyparchon, ein ihm infolge notwendiger Ableitung Zukommendes, aber es ist ihm doch nicht in der ousia, denn der Begriff des rechten Winkels selbst kommt in der Wesensbestimmung oder Definition des Dreiecks gar nicht vor; es kann ein Dreieck geben ohne rechten Winkel.

[Dass und Was - Schluß]

Die Erörterungen, denen ich mich hier überlassen, scheinen weit abzuliegen von allem, was jetzt vorzugsweise die Geister beschäftigt, und dennoch haben sie eine sehr nahe Beziehung auf die Gegenwart.
Denn jenes dem Denken über das Sein, dem Was über das Dass erteilte Übergewicht scheint mir nicht ein besonderes, sondern ein allgemeines Leiden der gesamten, glücklicherweise von Gott mit unerschütterlicher Selbstzufriedenheit ausgerüsteten deutschen Nation zu sein, die sich imstande zeigt, eine so lange — lange Zeit, unbekümmert um das Dass, mit dem Was einer Verfassung sich zu beschäftigen.
Wodurch also in der letzten Zeit die deutsche Philosophie mit unseliger Improduktivität geschlagen worden, dasselbe scheint mir auch die Ursache der politischen Improduktivität Deutschlands, am schmerzlichsten zu empfinden in einem Staat, der, von kleinen und zweifelhaften Anfängen durch unermüdliche Tatkraft zu großer Bedeutung erhoben, um so mehr Ursache hat, stets jenes Wort des großen Italieners eingedenk zu sein, dass die Staaten nur durch dieselben Ursachen erhalten werden, durch welche sie groß geworden sind.
Wenn auf eine über jede Anfechtung und allen Zweifel erhabene Weise erst das Sein festgestellt ist, mag man, wie es auch von selbst immer geschehen ist, den Inhalt dieses Seins dem Denken und der Vernunft gerechter zu machen suchen.
Fängt man aber mit dem Inhalt an, der für sich und von allen Existenzbedingungen losgetrennt nur ein allgemeiner sein kann: so wird man das eine Weile fortsetzen können, aber mit Schrecken am Ende gewahr werden, dass es an dem Gefäß fehlt, diesen Inhalt aufzunehmen.
Das Was führt von sich selbst ins Weite, in die Vielheit, und also auch natürlich zur Vielherrschaft, denn das Was ist in jedem Ding ein andres, das Dass seiner Natur nach und daher in allen Dingen nur Eines; in dem großen Gemeinwesen, das wir Natur und Welt nennen, herrscht ein einziges, jedes Vielheit von sich ausschließendes Dass;
wenn aber auch mit Platon anzunehmen ist, dass weder die Ungebildeten und aller Wahrheit Unkundigen den Staat gut verwalten werden, noch auch die, welche ohne Unterlaß und ausschließlich in der Wissenschaft gelebt haben,
jene nicht, weil sie nicht Einen Zweck im Leben zu verfolgen gewohnt sind, sondern vielerlei und zufällige Zwecke, diese nicht, weil sie nicht freiwillig auf menschliche Geschäfte sich einlassen, sondern jetzt schon in den Inseln der Seligen zu wohnen sich dünken werden:
so kann daraus nicht folgen, dass der Philosoph, wenn auch die zufällige politische Strömung nach der entgegengesetzten Seite gehen sollte, nicht nur um so mehr in der Wissenschaft festhalte an jenem Homerischen, das schon durch Aristoteles die Metaphysik sich als letzten Grundsatz angeeignet hat:                                        eis koiranos estô.

 

    ( êô"ouk agathon polukoirani: heis koiranos [est.]"

    "Nimmer ist gut eine Vielherrschaft; nur Einer [sei] Herrscher!")

 

schellinFriedrich Wilhelm Joseph Schelling

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Quelle der ewigen Wahrheiten - Schluss

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