abcphilde archiv                                                                                                                             manfred herok   2014 

Søren Kierkegaard

Entweder-Oder

Die unmittelbar-erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische

Nichtssagende Einleitung

Seit der Stunde, als zum erstenmal meine Seele von Mozarts Musik tiefer ergriffen wurde und in demütigem Staunen, sich vor ihr beugte, ist es mir oft eine liebe und erquickende Beschäftigung gewesen, darüber nachzudenken, wie jene hellenische Betrachtung der Welt – wonach diese kosmos heißt, weit sie als ein wohlgeordnetes Ganzes, als ein geschmackvoller und durchsichtiger Schleier des Geistes erscheint, welcher sie gestaltet und durchwirkt – wie jene heitere und erfreuliche Anschauungsweise sich auf eine höhere Ordnung der Dinge, auf die Welt der Ideale übertragen läßt, wie auch hier eine ordnende Weisheit waltet, welche in bewundernswürdiger Weise das, was zu einander gehört, zu seiner Zeit zusammenführt: Axel mit Valborg, Homer mit dem trojanischen Kriege, Raphael mit dem Katholizismus, Mozart mit Don Juan.
Es gibt einen jämmerlichen Unglauben, welcher mit sehr gelehrter Miene auftritt. Er meint, solche gegenseitige Annäherungen seien zufällige, und findet in ihnen nichts, als einen glücklichen Zusammenstoß der verschiedenen Kräfte im Spiel des Lebens. Er hält es für Zufall, daß zwei Liebende einander sahen, für zufällig, daß sie einander liebgewannen; da seien hundert andre Mädchen gewesen, mit denen er ebenso glücklich werden, die er ebenso zärtlich lieben konnte. Man nimmt an, daß mancher Dichter gelebt habe, der ebenso unsterblich wie Homer geworden wäre, wenn dieser nicht gerade den herrlichen Stoff vorweggenommen hätte, mancher Komponist, der ebenso unsterblich, wie Mozart, geworden wäre, wenn sich nur die Gelegenheit dazu geboten hätte. Das ist nun eine für alle Mittelmäßigkeiten ungemein tröstliche und beruhigende Weisheit, durch welche sie instandgesetzt werden, sich und allen Gleichgesinnten einzubilden, es sei eine pure Verwechslung von seiten des Schicksals, ein von der Welt begangener Irrtum, daß sie nicht ebenso ausgezeichnet geworden seien, wie gewisse Leute. So wird ein bequemer Optimismus zuwege gebracht. Jedem hochgesinnten Geiste, jedem Optimaten, welchem es weniger am Herzen liegt, auf eine so elende Manier aus sich etwas zu machen, als vielmehr bei der Betrachtung des wahrhaft Großen sich selbst zu verlieren, ist das natürlich ein Greuel, während es seiner Seele ein Genuß, eine heilige Wonne ist, vereint zu sehen, was zusammen gehört. Hierin besteht das Glückliche, nicht in dem Sinne des Zufälligen, und setzt daher zwei Faktoren voraus, während der Zufall in den unartikulierten Interjektionen des Schicksals liegt. Hierin besteht, was die Menschengeschichte Glückliches enthält, nämlich jenes göttliche Zusammenspiel der geschichtlichen Kräfte; das sind die Fest- und Feiertage der geschichtlichen Zeit, Das Zufällige hat nur einen Faktor: es ist zufällig, daß Homer in dem Verlaufe des trojanischen Krieges den ausgezeichnetsten epischen Stoff, der sich denken läßt, bekommen hat. Das Glückliche hat deren zwei: es ist ein besonderes Glück, daß der ausgezeichnetste epische Stoff einem Homer zu teil ward. Hier liegt nämlich der Accent ebensosehr auf Homer, als auf dem Stoffe. Daher die tiefe Harmonie, welche jedes Erzeugnis durchtönt, das wir klassisch nennen. So auch bei Mozart. Ein glückliches Zusammentreffen war's, daß das im tieferen Sinne vielleicht einzige musikalische
Sujet niemand anders gegeben wurde, als – Mozart.

Mit seinem Don Juan tritt Mozart ein in die kleine unsterbliche Schar von Männern, deren Namen, deren Werke die Zeit nicht vergessen wird, da die Ewigkeit ihrer gedenkt. Und obgleich es für jeden, der in diesen Chor eingetreten, gleichgültig ist, ob er oben- oder untenan steht – denn in gewissem Sinne stehen alle gleich hoch, da sie unendlich hoch stehen –, obgleich hier der Streit um den obersten und den untersten Platz gerade so kindisch ist, als bei der Konfirmation um den Vorrang auf der Kirchendiele zu streiten: so bin ich doch immer noch allzusehr Kind, oder richtiger, ich bin wie ein junges Mädchen in Mozart verliebt; und, es koste was es wolle, ich muß ihn zu oberst stehen sehen. Und ich will zu Küster und Pastor, zu Propst und Bischof, ja zu dem ganzen Konsistorium gehen, will sie bitten und beschwören, meine Bitte zu erfüllen, und will die ganze Gemeinde um dasselbe anrufen; und will man nicht hören, meinen kindischen Wunsch nicht erfüllen: dann trete ich aus dem weiten Kreise der Gesellschaft, separiere mich von ihrem Gedankengange, bilde eine Sekte, welche nicht nur Mozart obenan stellt, sondern niemanden kennt, als Mozart; und Mozart werde ich um Verzeihung bitten, daß seine Musik mich nicht zu großen Thaten begeistert hat, sondern zu einem Narren gemacht, welcher das bißchen Verstand, das ich hatte, verloren, und jetzt sich meistens in stiller Wehmut die Zeit damit vertreibt, daß ich leise summe, was ich nicht verstehe, was wie nach Geister Art bei Tag und Nacht geheimnisvoll mich umschwebt. Unsterblicher Mozart! du, dem ich alles verdanke, dem ich verdanke, daß meine Seele doch einmal vor Staunen außer sich geraten, ja im Innersten durchschauert ist, dem ich verdanke, daß ich nicht durchs Leben hindurchgegangen bin, ohne daß etwas im stande gewesen wäre, mich zu erschüttern, daß ich nicht dahingestorben bin, ohne geliebt zu haben, wenn meine Liebe auch eine unglückliche war! Was Wunders denn, wenn ich auf seine Verherrlichung eifersüchtiger bin, als auf die glücklichsten Stunden meines eignen Lebens, eifersüchtiger auf seine Unsterblichkeit, als auf mein eignes Dasein? Ja, würde er hinweggenommen, sein Name ausgelöscht, dann würde der eine Pfeiler stürzen, welcher bisher verhindert hat, daß mir nicht alles in ein grenzenloses Chaos, in ein grauenvolles Nichts zusammenstürzte.

Jedoch brauche ich wohl nicht zu fürchten, daß irgend eine Zeit ihm seinen Platz in jenem Königreiche von Göttern versagen wird, wohl aber darauf gefaßt zu sein, daß man meine Beanspruchung des ersten Platzes für ihn als etwas Kindisches betrachtet. Und obgleich ich meiner Kinderei mich keineswegs zu schämen gedenke, obgleich sie für mich selbst immer größere Bedeutung, mehr Wert behalten wird, als jede erschöpfende Betrachtung, weil sie unerschöpflich ist: so will ich dennoch einen Versuch machen, auf dem Wege ruhiger Erörterung seinen wohlbegründeten Anspruch zu beweisen.

Das Glückliche bei klassischen Schöpfungen, was ihre Klassizität und ihre Unsterblichkeit begründet, ist die absolute Zusammengehörigkeit, ja Einheit dieser beiden Mächte. Diese Einheit ist eine so absolute, daß eine spätere reflektierende Zeit kaum einmal in der Idee auseinander halten kann, was innerlich verbunden ist, ohne Gefahr zu laufen, daß sie ein Mißverständnis wecke oder nähre. Sagt man z.B., es sei Homers Glück gewesen, daß er den ausgezeichnetsten epischen Stoff vorfand, so kann man dabei leicht vergessen, daß wir ja beständig diesen epischen Stoff nur mittels der Auffassung haben, die eben Homer eigen war, und dasjenige, was als her vollkommenste epische Stoff erscheint, uns nur durch die Transsubstantiation bekannt und deutlich ist, welche Homer angehört. Hebt man dagegen Homers dichterische Thätigkeit hervor, die er in der Belebung und Durchdringung des Stoffes beweist, so kann man darüber leicht vergessen, daß die Dichtung niemals geworden wäre, was sie ist, wäre nicht die Idee, mit welcher Homer sie durchdrungen hat, die der Dichtung innewohnende Idee gewesen, wäre nicht die Form die eigenste Form des Stoffes selbst. Der Dichter wünscht sich seinen Stoff. »Wünschen ist keine Kunst,« sagt man wohl, und von einer Menge ohnmächtiger Dichterwerke gilt das mit voller Wahrheit. Richtig zu wünschen, ist dagegen eine große Kunst, oder besser gesagt, das ist eine Gabe. Dies ist das Unerklärliche, das Geheimnisvolle beim Genie, wie bei der Wünschelrute, welche nie den Einfall bekommt, zu wünschen, als wo der Quell oder Schatz sich befindet, den sie wünscht. Wünschen hat daher eine weit tiefere Bedeutung, als einer insgemein denkt; ja, dem abstrakten Verstande kommt es lächerlich vor, da dieser sich das Wünschen vorstellt in Beziehung auf irgend etwas, was nicht ist, nicht in Beziehung auf etwas, was wirklich vorhanden ist.

Es hat eine Schule von Ästhetikern gegeben, die eben dadurch, daß sie einseitig die Bedeutung der Form hervorhob, es mit verschuldet hat, daß das entgegengesetzte Mißverständnis sich geltend machte.
Ich habe mich oft darüber gewundert, daß diese Ästhetiker sich ohne weiteres an die Hegelsche Philosophie anschlossen, während doch schon eine allgemeine Bekanntschaft mit Hegel, vollends aber mit seiner Ästhetik, uns überzeugt, daß er gerade in ästhetischer Hinsicht die Bedeutung des Stoffes besonders hervorhebt. Beides gehört indessen wesentlich zusammen, und dieses zu beweisen, dazu wird eine einzige Betrachtung hinreichen, sofern das betreffende Phänomen sonst unerklärlich wäre. Gewöhnlich ist es nur ein einzelnes Werk, oder eine einzelne Folge von Werken, welche jemanden zum klassischen Dichter, Künstler u.s.w. stempeln. Derselbe Mann mag mancherlei Verschiedenartiges hervorgebracht haben, was aber zum klassischen in keinem Verhältnis steht. Homer soll auch eine Batrachomyomachia gedichtet haben; jedenfalls ist er durch diese so wenig, wie durch seine Hymnen und Epigramme, klassisch oder unsterblich geworden. Die Behauptung, das habe seinen Grund in der Geringfügigkeit des Stoffes (wie bei jenem »Froschmäusekrieg«) gehabt, ist verkehrt, sofern das Klassische in dem Gleichgewichte liegt. Gesetzt nun, daß, was eine künstlerische Hervorbringung zu einer klassischen macht, einzig und allein in der produzierenden Individualität läge, dann müßte ja alles, was sie hervorgebracht, klassisch sein, in ähnlichem, wenn auch einem höheren Sinne, wie die Biene immer eine gewisse Art von Zellen hervorbringt. Würde man nun antworten, das komme daher, daß er bei dem einen Stoffe glücklicher gewesen sei, als bei dem andern, so hätte man eigentlich nichts geantwortet. Teils ist es nur ein vornehmes Schweigen, welches nur allzu oft im Leben die Ehre hat, für eine Antwort zu gelten, teils heißt es geantwortet in ganz anderem Sinne, als gefragt worden ist. Es ist nämlich nichts damit gesagt hinsichtlich des Verhältnisses von Stoff und Form, und höchstens könnte es in Betracht kommen, wo von der gestaltenden Thätigkeit allein die Rede wäre.

Bei Mozart trifft es nun ebenso zu, daß nur ein Werk desselben existiert, das ihn zu einem klassischen Komponisten und im vollen Sinne des Wortes unsterblich macht. Dieses Werk ist der Don Juan.
Was er sonst hervorgebracht hat, kann erfreuen, unsre Bewunderung erregen, die Seele bereichern, das Ohr sättigen, dem Herzen wohlthun; aber ihm und seiner Unsterblichkeit erweist man keinen Dienst, wenn man alles durcheinander wirft und das alles für gleich groß erklärt. Don Juan ist sein Rezeptionsstück, das, woraufhin er in den höchsten Orden aufgenommen ist. Mit Don Juan tritt er in jene Ewigkeit ein, welche nicht außerhalb der Zeit liegt, sondern mitten in ihr, welche auch nicht durch irgend einen Vorhang den Augen der Menschen verhüllt wird, in welche die Unsterblichen nicht sowohl ein für allemal aufgenommen sind, als vielmehr beständig aufgenommen werden, während das lebende Geschlecht vor ihnen vorüber wandelt und die Augen zu ihnen erhebt, in ihrem Anblicke sich glücklich fühlt, und so zu Grabe geht, worauf das folgende Geschlecht wiederum durch ihr Anschauen gehoben und verklärt wird. Mit seinem Don Juan tritt er in die Kreise jener Unsterblichen, jener sichtbar Verklärten ein, welche keine Wolke den Augen der Menschen entzieht; durch Don Juan steht er in der vordersten Reihe. Dieses letzte ist das, was ich, wie gesagt, zu beweisen versuchen möchte.

Alle klassischen Schöpfungen stehen, wie ich vorhin bemerkt habe, gleich hoch, weil jede unendlich hoch steht. Will man also dessenungeachtet in diese Prozession eine gewisse Reihenfolge zu bringen suchen, so kann dieselbe, wie sich von selbst versteht, nicht auf etwas Wesentlichem beruhen; denn daraus würde ja folgen, daß ein wesentlicher Unterschied stattfinde, woraus sich ergäbe, daß man mit Unrecht das Prädikat »kläglich« von ihnen insgesamt gebraucht. Wollte man der Klassifikation z.B. die verschiedene Beschaffenheit des Stoffes zu Grunde legen, so würde man dadurch sich sogleich in ein Mißverständnis verwickeln, welches in seiner weiteren Ausdehnung zuletzt den ganzen Begriff des Klassischen aufheben dürfte. Der Stoff ist nämlich ein wesentliches Moment, sofern er der eine Faktor ist; er ist aber nicht das Absolute, das Eins und Alles. Man könnte darauf hinweisen, daß bei gewissen Arten klassischer Erzeugnisse gewissermaßen gar kein Stoff vorhanden ist, während der Stoff bei andern eine so bedeutende Rolle spielt. Ersteres ist der Fall bei den Werken, die wir als klassische bewundern, in der Architektur, Skulptur, Musik, Malerei, namentlich den drei erstgenannten, so daß selbst, was die Malerei angeht, sofern vom Stoffe die Rede ist, dieser doch zunächst nur die Bedeutung des gegebenen Anlasses hat. Das andere gilt von der Poesie, in der weitesten Bedeutung des Wortes, jede künstlerische Produktion bezeichnend, die auf der Sprache und zugleich dem geschichtlichen Bewußtsein beruht. Diese Bemerkung ist an sich ganz richtig; will man aber eine Klassifikation darauf begründen, so daß man den Mangel an Stoff als Vorteil, dessen Vorhandensein als ein gewisses Hemmnis für das produzierende Subjekt betrachtet, so verirrt man sich. Genau genommen, urgiert man alsdann das Gegenteil von dem, was man eigentlich urgieren möchte, wie's immer geht, wenn man abstrakt sich in dialektischen Bestimmungen bewegt, wo man nicht etwa nur das eine sagt, das andre meint; nein, man sagt das andre; was man zu sagen glaubt, sagt man nicht, man sagt das Gegenteil. Ebenso, wo man den Stoff als Einteilungsprinzip geltend macht. Während man hiervon redet, redet man eigentlich von etwas ganz andrem, nämlich von der gestaltenden Thätigkeit. Will man hingegen diese zu seinem Ausgangspunkte wählen und ausschließlich sie hervorheben, so hat man das nämliche Schicksal. Indem man hier den Unterschied recht geltend machen will, somit betonen, daß in einigen Richtungen die gestaltende Thätigkeit in dem Grade schöpferisch ist, daß sie den Stoff mit hervorbringt, wogegen sie in andern den Stoff empfängt, so redet man wiederum hier – wiewohl man von der gestaltenden Funktion zu reden vermeint – eigentlich von dem Stoffe, auf dessen Einteilung man die Klassifikation begründet. Um eine Rangfolge zu begründen, kann also niemals die eine der beiden Seiten gebraucht werden; denn diese ist immerdar zu wesentlich, um als zufällig gelten zu können, zuzufällig, um eine wesentliche Anordnung zu begründen. Aber diese absolut gegenseitige Durchdringung von Stoff und Form, dieses »wie du mir, so ich dir« in der unsterblichen Freundschaft alles Klassischen, kann dazu dienen, das Klassische von einer neuen Seite zu beleuchten und es so zu begrenzen, daß es nicht zu weitschichtig werde. Diejenigen Ästhetiker nämlich, welche einseitig die dichterische Arbeit urgierten, haben diesen Begriff allzusehr erweitert, so daß jenes erhabene Pantheon in solchem Grabe mit »klassischen« Schnurrpfeifereien und Bagatellen bereichert, ja überladen wurde, daß die gegebene Vorstellung von einer hohen Tempelhalle mit einzelnen auserwählten, großen Gestalten völlig verschwand, und aus einem Pantheon vielmehr zu einer Rumpelkammer ward. Jede kleine, in künstlerischer Hinsicht hübsch vollendete Arbeit ist dieser Ästhetik zufolge ein klassisches Werk, das auf absolute Unsterblichkeit rechnen darf; ja, solchen Kleinigkeiten räumte man bei diesem Hokuspokus am allermeisten ein. Obschon man im übrigen allen Paradoxien sehr abgeneigt war, scheute man sich dennoch nicht vor dem Paradoxon: in dem Kleinsten, dem an sich Geringfügigsten zeige sich eigentlich die Kunst. Das Unwahre liegt darin, daß man die formale Thätigkeit und ihre Schwierigkeiten einseitig hervorhob. Eine solche Ästhetik konnte sich nur an eine bestimmte Zeit halten, solange man nämlich übersah, daß die Zeit ihrer, samt ihren klassischen Werken, spottete. Auf dem Gebiete der Ästhetik war diese Anschauungsweise eine Form des Radikalismus, welcher sich auf so vielen Gebieten in entsprechender Weise geäußert hat; sie war eine Äußerung der ungezügelten Subjektivität in ihrer eben so zügellosen Inhaltsleere. Diese Richtung, dieses Interesse fand indessen, wie so manche andere, seinen Bezwinger in Hegel. Er, über welchen man sich nur allzu rasch hinweggesetzt hat, nachdem man vorher kopfüber in seine Philosophie hineingestürzt war, setzte wieder den Stoff, die Idee in ihre Rechte ein, und vertrieb dadurch diese flüchtigen »klassischen« Werke, diese leichten Wesen, Dämmerungsschwärmer, aus dem hochgewölbten Tempel der Klassizität. Es fällt mir nicht ein, den ihnen gebührenden Wert ableugnen zu wollen; aber es gilt, darüber zu wachen, daß hier nicht, wie in so manchen Punkten, die Sprache verwirrt, die Begriffe entnervt werden. Man mag ihr Verdienstliches anerkennen und so eine gewisse Ewigkeit ihnen beilegen, nämlich den ewigen Augenblick, den jede wahre Kunstleistung hat, welcher aber nicht gleichbedeutend ist mit jener vollkommenen Ewigkeit inmitten der wechselvollen Wandlungen des Zeitenlaufes. Was den bezeichneten Hervorbringungen fehlte, war die Idee; und je mehr sie in formaler Hinsicht vollendet waren, desto rascher verbrannten sie in sich selbst; je mehr die technische Fertigkeit zum höchsten Grade der Virtuosität entwickelt wurde, desto vergänglicher und flüchtiger ward diese selbst, ohne Mut und Kraft, ohne Halt, um dem Stürme der Zeit zu widerstehen. Nur wo die Idee zur Ruhe gebracht und in einer bestimmten Form durchsichtig geworden ist, kann von einem klassischen Werke die Rede sein. Dieses wird alsdann aber auch dem Strome der Zeit widerstehen können. Solche harmonische Einheit, solches Ineinanderaufgehen von Idee und Form ist jedem wahrhaft klassischen Werke eigen; daher ist jeder Versuch, die verschiedenen klassischen Werke zu klassifizieren, wobei man von einer Sonderung des Stoffes oder der Idee, und der Form ausgeht, eo ipso verfehlt.

Man könnte sich auch einen andern Weg denken. Man könnte das Medium, durch welches die Idee sichtbar wird, zum Gegenstande von Betrachtungen machen, und indem man bemerkte, daß das eine Medium reicher, das andere dürftiger sei, hierauf die Einteilung begründen, so daß man in dem größeren oder geringeren Reichtum, resp. Mangel des Mediums, einerseits eine Erleichterung, anderseits eine Erschwerung der Kunst erblickte. Allein das Medium steht in einem zu notwendigen Zusammenhange mit der ganzen Kunstschöpfung, als daß eine hierauf beruhende Einteilung sich nicht ebenfalls in die vorhin hervorgehobenen Schwierigkeiten verwickeln sollte.

Dagegen glaube ich durch folgende Betrachtungen die Aussicht auf eine Einteilung zu eröffnen, welche eben darum, weil sie eine durchaus zufällige ist, zur Geltung kommen dürfte. Je abstrakter, also je ärmer zugleich die Idee ist, je abstrakter, also je ärmer auch das Medium ist, desto größere Wahrscheinlichkeit findet statt, daß eine Wiederholung gar nicht denkbar ist, daß, wenn die Idee ihren Ausdruck gefunden hat, sie ihn ein für allemal gefunden hat. Je konkreter dagegen und je reicher also die Idee ist, ebenso wie das Medium, desto wahrscheinlicher ist eine Wiederholung. Indem ich nun alle die verschiedenen klassischen Werke nebeneinander stelle, und ohne sie rangieren zu wollen mich eben darüber wundere, daß sie alle gleich hoch stehen, so wird es sich doch ergeben, daß die eine Sektion mehr Arbeiten zählt, als die andre, oder, falls dem nicht also ist, jedenfalls die Möglichkeit vorliegt, daß sie es könne, während sich nicht so leicht für eine andre eine derartige Möglichkeit zeigt.

Dies will ich etwas weiter entwickeln. Je abstrakter also die Idee, desto geringere Wahrscheinlichkeit. Wodurch aber wird die Idee konkret? Dadurch, daß sie vom Geschichtlichen durchtränkt ist. Je konkreter die Idee, desto größere Wahrscheinlichkeit. Je abstrakter das Medium ist, desto weniger Wahrscheinlichkeit, je konkreter das Medium, desto mehr. Aber was will dies, daß das Medium ein konkretes sei, andres sagen, als daß es der Sprache sich mehr oder weniger annähert; denn die Sprache ist von allen Medien das konkreteste. So ist die in der Skulptur zur Erscheinung kommende Idee durchaus abstrakt, steht kaum in einer Beziehung zu einem geschichtlichen Hergange; das Medium, durch welches sie in die Erscheinung tritt (Stein, Holz, Erz), ist ebenfalls abstrakt; also ist große Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Sektion der zur Skulptur gehörigen klassischen Arbeiten sich auf wenige beschränken wird. In dieser Hinsicht darf ich mich auf das Zeugnis der Zeit und der Erfahrung berufen. Nehme ich dagegen eine konkrete Idee und dazu ein konkretes Medium, so zeigt es sich anders. Homer ist gewiß ein klassischer epischer Dichter; aber weil die im Epos sich offenbarende Idee eine durchaus konkrete, und weil das Medium die Sprache ist, darum lassen sich in der Sektion der klassischen Werke, welche die epische Poesie umfaßt, mehrere mit Fug und Recht klassische Werke denken, weil ja die Geschichte unablässig neuen epischen Stoff absetzt. Auch in dieser Hinsicht steht das Zeugnis der Erfahrung auf meiner Seite.

Man wird mir vielleicht entgegenhalten, daß eine also begründete Einteilung zu sehr den Charakter bloßer Zufälligkeit trage. Aber man irrt sich; man vergißt, daß sie nicht anders als zufällig sein kann. Es ist durchaus etwas Zufälliges, daß die eine Sektion eine größere Anzahl Werke zählt, oder doch zählen kann, als die andre. Man wolle zugleich den Umstand in Betracht ziehen, daß die Sektionen, welche die konkreten Ideen umfassen, durchaus nicht abgeschlossen sind und sich nicht abschließen lassen. Daher ist es das Natürliche, die andern voran zu stellen, und im Hinblick auf die zuletzt besprochenen beständig die Flügelthüren offen stehen zu lassen. Würde dagegen jemand sagen: dieses sei bei jener ersten Klasse doch eine Unvollkommenheit, ein Mangel, so pflügt ein solcher außerhalb der Furchen meiner Betrachtung, und ich kann auf seine Rede, wie gründlich sie auch sein mag, nicht achten. Denn das bleibt doch der zu behauptende feste Punkt, daß alles wirklich Klassische, aus dem wesentlichen Gesichtspunkte betrachtet, gleich vollkommen ist.

Welche Idee ist nun aber die abstrakteste? Hier handelt es sich natürlich nur um eine solche Idee, die Gegenstand künstlerischer Behandlung sein kann, nicht um Ideen, die sich für wissenschaftliche Darstellung eignen. Und welches Medium ist das abstrakteste? Letztere Frage will ich zuvörderst beantworten.
Es ist das von der Sprache am meisten entfernte Medium.

Hierbei sei an einen Umstand erinnert. Das abstrakteste Medium hat also zu seinem Gegenstande keineswegs immer die abstrakteste Idee. So ist das von der Architektur gebrauchte Medium zwar das abstrakteste; dennoch sind die Ideen, die in der Architektur zum Ausdruck kommen, durchaus nicht die abstraktesten.
Die Baukunst steht in einem weit näheren Verhältnis zur Geschichte, als z.B. die Skulptur.

Die abstrakteste Idee, die sich denken läßt, ist – die sinnliche Genialität. Aber durch welches Medium läßt sie sich darstellen? Einzig und allein – durch die Musik. – In Skulptur läßt sie sich nicht darstellen: denn sie ist an und für sich etwas Innerliches, eine Sinnesart. Ebensowenig läßt sie sich malen: denn sie läßt sich nicht in einen bestimmten Umriß fassen, da sie, in allem ihrem lyrischen Schwunge, eine Kraft, ein Sturm, eine Leidenschaft ist, und das nicht in einem einzelnen Momente, sondern in einer langen Folge von Momenten. Letzteres drückt gewissermaßen ihren epischen Charakter aus, welcher indessen nicht zu Worten kommt, sondern sich beständig in der Unmittelbarkeit des Gefühls regt. Poetisch läßt sie sich auch nicht darstellen.
Das einzige Medium zu ihrer Darstellung ist die Musik. Diese schließt nämlich zwar ein Moment der Zeit in sich, verläuft jedoch nicht in der Zeit, es wäre denn in uneigentlichem Sinne. Jedenfalls vermag sie das Geschichtliche der Zeit nicht auszudrücken.

Die vollendete Einheit jener Idee und der ihr entsprechenden Form ist Mozarts Don Juan. Aber gerade, weil die Idee eine so maßlos abstrakte, das Medium gleichfalls ein so abstraktes ist, so spricht gar keine Wahrscheinlichkeit dafür, daß Mozart jemals einen Konkurrenten erhalten sollte. Die glückliche Fügung für Mozart ist, daß er einen Stoff gefunden hat, der an sich selbst absolut musikalisch ist; und sollte einmal ein anderer Komponist mit Mozart wetteifern, so wäre für ihn nichts anderes zu thun, als daß er den Don Juan wieder umkomponierte. Homer hat einen vollendet epischen Stoff überkommen; aber man kann sich eine ganze Anzahl epischer Gedichte denken, weil ja die Geschichte mehr und mehr epischen Stoffes darbeut.
So ist es dagegen nicht mit Don Juan. Was ich eigentlich meine, wird man vielleicht am besten einsehen, wenn ich an einer verwandten Idee den Unterschied nachweise. Goethes Faust ist recht eigentlich ein klassisches Werk; aber er ist eine geschichtliche Idee, und daher wird jede bewegte und bedeutende Zeit ihren Faust haben. Der Faust hat zu seinem Medium die Sprache; und da dieses ein weit konkreteres Medium ist, so lassen sich aus diesem Grunde mehrere Werte derselben Tendenz denken. Don Juan dagegen ist und bleibt der einzige seiner Art, in demselben Sinne, wie die klassischen Werke der griechischen Skulptur.
Da aber die Idee des Don Juan noch weit abstrakter ist, als die der Skulptur zu Grunde liegende, so ist leicht einzusehen, daß, während man in der Skulptur mehrere Werke hat, man in der Musik nur ein einziges bekommt. Freilich lassen sich in der Musik viele klassische Werke denken; aber es bleibt doch immer nur ein Werk, von welchem man sagen kann, daß die Idee derselben eine absolut musilkalische ist, also daß die Musik nicht als Akkompagnement hinzutritt. Sondern so, daß, während sie die Idee offenbart, sie zugleich ihr eigenstes innerstes Wesen offenbart. Daher steht Mozart mit seinem Don Juan unter jenen Unsterblichen obenan.

Jedoch ich stehe von dieser ganzen Untersuchung ab. Ist sie doch nur für Verliebte geschrieben.
Und sowie schon weniges hinreicht, Kinder zu erfreuen, so sind es bekanntlich oft höchst unbedeutende Dinge, daran Verliebte sich freuen können. Sie gleicht einem lebhaften Liebesdisput über ein Nichts, und dennoch hat sie ihren Wert, das heißt für die Liebenden.

Während das vorhergehende auf jede mögliche Weise, sei's denkbare, sei's undenkbare, den Satz zur Anerkennung zu bringen gesucht hat, daß Mozarts Don Juan unter allen klassischen Werken den ersten Rang einnimmt, ist dagegen so gut wie gar kein Versuch gemacht, zu beweisen, daß diese Schöpfung wirklich eine klassische ist; denn die einzelnen, hier und dort durchschimmernden Winke zeigen ja eben als solche, daß die Absicht nicht war, zu beweisen, sondern nur gelegentlich zu beleuchten. Dieses Ver fahren könnte mehr als Sonderbar erscheinen. Jedoch ist die Denkarbeit vorläufig damit beruhigt, daß es ein klassisches Werk und alle klassischen Hervorbringungen gleich vollkommen sind. Was man mehr erreichen will, ist fürs Denken vom Übel. Insoweit war eigentlich alles Vorhergehende im vollsten Widerspruch mit sich, der jedoch in der menschlichen Statur begründet ist. Der innere Drang der Bewunderung, die Sympathie, die Pietät, das Kind, das Weibliche in mir, forderte mehr, als was das bloße Denken gewähren konnte. Suchte ich es nun noch in Bewegung zu setzen, so führte diese doch zu nichts, ging beständig über sich selbst hinaus und fiel immer wieder in sich selbst zurück, ohne festen Grund und Boden zu finden, ohne weder Schwimmen noch waten zu können – was freilich ebensosehr zum Lachen als zum Weinen war. Und dennoch reize ich es noch einmal zu dem nämlichen Spiel, welches für mich selbst ein unerschöpflicher Stoff zur Freude ist. Jeder Leser, der das Spiel langweilig findet, ist natürlich nicht von meinesgleichen; für ihn hat es keine Bedeutung; und hier, wie überall, gilt es: »Gleiche Kinder spielen am besten miteinander.« Mag immerhin für ihn das vorhergehende überflüssig sein, so sage ich doch mit Horaz: Exilis domus est, ubi non et multa supersunt. Für ihn ist's immerhin eine Thorheit, für mich Weisheit; für ihn Langeweile, für mich Lust und Freude. So sehr nun auch ein solcher Leser auf die Beweisführung gespannt sein mag, so kann es mir doch niemals einfallen, einen eigentlichen Beweis zu führen, daß Don Juan ein klassisches Werk sei. Während ich eigentlich beständig dieses als ausgemacht voraussetze, wird das folgende manchmal und auf mancherlei Weise dazu dienen, Don Juan in dieser Hinsicht zu beleuchten, sowie schon das obige einzelne Winke enthielt.

Zunächst hat diese Untersuchung sich also zur Aufgabe gestellt, die Bedeutung des Musikalisch-Erotischen nachzuweisen und zu dem Ende die verschiedenen Stadien anzudeuten, welche, eines wie das andere unmittelbar erotisch, zugleich darin einander gleichen, daß sie wesentlich musikalisch sind. Was ich hierüber zu sagen habe, verdanke ich einzig und allein Mozart. Sollte daher jemand höflich genug sein, mir zwar recht zu geben in meinen Behauptungen, dagegen etwas zweifelhaft wäre, ob das Gesagte in Mozarts Musik liege, oder nur von mir hineingelegt werde, so kann ich ihm versichern, daß nicht bloß das Wenige, was ich nachzuweisen vermag, in Mozarts Musik liegt, sondern unendlich viel mehr. Was man mit jugendlicher Schwärmerei geliebt, was man enthusiastisch bewundert, ja womit man in tiefster Seele einen geheimnisvollen Umgang geführt, was man in seinem Herzen geborgen hat, dem naht man immer mit einer gewissen Scheu, mit gemischten Empfindungen, wenn die Absicht vorliegt, es begreifen zu wollen. Was man stückweise kennen gelernt, nach Art der Vöglein jeden kleinen Strohhalm für sich eingesammelt hat, froher über jede solche Kleinigkeit als über die ganze übrige Welt, was das liebende Ohr einsam eingesogen hat, einsam mitten im Volksgedränge, unbeachtet in seinem heimlichen Winkel; was das Ohr heißhungrig auffing und festhielt, ohne je Genüge zu finden, dessen leisester Widerhall niemals des lauschenden Ohres schlaflose Aufmerksamkeit täuschte; worin man den Tag über lebte, was man nächtens wieder durchlebte; was den Schlaf verscheuchte oder ihn unruhig machte; wovon man träumte und auch mit offnen Augen weiter träumte; um dessentwillen man mitten in der Nacht aufsprang, aus Furcht, es zu vergessen; was in den begeistertsten Augenblicken einem vor die Seele trat, was man, wie die Frauen ihre Handarbeit, beständig zur Hand hatte; was einem in den hellen Mondnächten, in einsamen Wäldern, am Meeresgestade, in den düstern Straßen, um Mitternacht und noch beim Granen des Morgens begleitete; was mit uns zu Pferde faß, im Wagen Gesellschaft leistete; wovon unsre Häuslichkeit durchdrungen, wovon unser Zimmer Zeuge war; was die Seele durchtönt hat, was sie in ihr feinstes Gewebe hineingesponnen hat – das ist's, was sich jetzt dem Nachdenken darstellt.
Wie in den Sagen der Vorzeit jene rätselhaften Wesen, in Seetang gekleidet, aus dem Grunde des Meeres emporsteigen, ebenso erhebt jenes sich, mit Bildern voriger Tage umflochten, aus dem Meer der Erinnerung. Die Seele wird wehmütig, und das Herz weich; beim es ist, als nähme man davon Abschied, um niemals ihm wieder so zu begegnen in Zeit und Ewigkeit. Man meint, eine Untreue zu begehen; man fühlt, daß man nicht mehr derselbe, nicht so jung, so kindlich ist. Man fürchtet für sich selbst, daß man verlieren werde, was einen froh, glücklich und reich machte; man fürchtet für das, was man lieb hat, daß es unter dieser Verwandlung leide, sich weniger vollkommen zeige, daß der Zauber verschwunden sei: und dieser läßt sich niemals mehr zurückrufen. Was Mozarts Musik betrifft, so kennt meine Seele keine Furcht, mein Vertrauen keine Grenze. Teils ist, was ich bisher verstanden habe, nur sehr wenig, und immer bleibt noch genug, was sich in den Schatten der Ahnung hüllt; teils bin ich überzeugt, daß, würde Mozart mir jemals ganz begreiflich, er mir erst vollkommen unbegreiflich würde. –

Daß das Christentum zuerst die Sinnenlust in die Welt (oder in ihrer wahren Natur zu Tage) gefördert habe, scheint eine kühne und gewagte Behauptung. Allein auch hier dürfte es heißen: »Frisch gewagt, ist halb gewonnen.« Sofern das Sinnliche (Fleischliche) das ist, was negiert werden soll, so kommt es ja erst ans Licht, wird erst poniert durch den Akt, der es ausschließt, der das entgegengesetzte Positive poniert.
Als ein Prinzip, eine Macht, ein System ist die Sinnenlust erst durch das Christentum bestimmt worden.
Richtig verstanden wird jener Satz aber nur, wenn man ihn als identisch mit seinem Gegensatze versteht, daß das Christentum es ist, welches die Sinnenlust aus der Welt verjagt oder ausgeschlossen hat. Wird sie im Lichte des Geistes, oder des positiven Prinzips, welches erst das Christentum als Herrscher eingesetzt hat, betrachtet, so ergibt sich ihre Bedeutung dahin, daß sie das zur Überwindung oder Ertötung Bestimmte ist. Aber jetzt erst, in dem Augenblicke, wo sie ausgeschlossen werden soll, erweist sie sich als wirksames Prinzip, als Macht. Daß die Sinnenlust schon lange vor dem Christentum in der Welt gewesen ist, als das, was eben durch dieses sollte ausgeschlossen werden, ist selbstverständlich, wenn es auch erst, indem es ausgeschlossen wird, in einem andern Sinne aufkommt.

Die Sinnenlust ist also zwar vorher in der Welt gewesen, aber nur nicht geistig (pneumatisch) bestimmt. In welcher Art war sie denn vorhanden? Sie war da als etwas nur seelisch (psychisch) Bestimmtes. Also war sie's im Heidentume; und sucht man dafür den vollkommensten Ausdruck, so fand sich dieser in Griechenland. Wenn jedoch die Sinnenlust bloß psychisch bestimmt ist, so stellt sie nicht einen Gegensatz, eine Ausschließung dar, sondern Harmonie und Einklang. Aber eben darum, weit sie als etwas harmonisch Geartetes galt, war sie nicht als Prinzip gesetzt, sondern als ein mitlautendes Enklitikon (Anhängsel).

Diese Anschauung wird von Bedeutung sein, um die verschiedene Gestalt zu beleuchten, welche das Erotische seinen verschiedenen Entwickelungsstufen nach im Wettbewußtsein einnimmt, und uns dadurch den Weg bahnen, um das Unmittelbar-Erotische als identisch zu erkennen mit dem Musikalisch-Erotischen. Im Griechentum wurde die Sinnlichkeit von der schönen Erscheinung eines Individuums beherrscht, oder richtiger gesagt, sie wurde nicht beherrscht, Galt sie doch nicht als ein Feind, der überwältigt, nicht als ein Empörer, der unter Rute und Zucht gehalten werden müsse: sie war freigelassen zu Leben und Freude mit und an der schönen Erscheinung. Somit war die Sinnlichkeit keineswegs als ein Prinzip (bewußter Lebensgrundsatz) aufgestellt: vielmehr war das die schöne Individualität konstituierende Psychische undenkbar ohne das Sinnliche. Aus diesem Grunde war denn auch das Erotische, welches auf dem Sinnlichen beruhte, nicht als Prinzip bestimmt. Die Liebe war überall als Moment und momentweise gegenwärtig in der schönen Individualität. Den Göttern war die Macht derselben nicht weniger bekannt, als den Menschen. Die ersteren kannten nicht weniger, als die letzteren, glückliche und unglückliche Liebesabenteuer. In keinem derselben ist jedoch die Liebe als Prinzip gegenwärtig. Soweit sie sich in dem einen oder andern regte, war sie vorhanden als Moment der allgemein waltenden Macht der Liebe, welche Macht indessen an keinem Orte gleichsam ansässig war, daher auch nicht für die griechische Vorstellung oder in dem griechischen Bewußtsein. Schon nach Hesiod galt Eros als der ältesten Götter einer, als die einigende und bindende Macht, durch welche alle Wesen der Welt entstehen und zu harmonischer Ordnung gebracht werden.

Man könnte mir einwenden: Eros sei aber doch der Gott der Liebe gewesen; in ihm müsse man sich also die Liebe als Prinzip gegenwärtig denken. Aber abgesehen davon, daß doch auch hier die Liebe nicht auf dem Erotischen, als bloß sinnlichen Ursprungs, sondern auf dem Seelischen beruht, so kommt zugleich ein andrer Umstand in Betracht, auf welchen ich jetzt etwas näher eingehen will. Eros war der Gott der Liebe, aber selber – nicht verliebt. Soweit die übrigen Götter oder Menschen die Macht der Liebe in sich verspürten, schrieben sie dieses zwar dem Eros zu, führten es auf ihn zurück: Eros selbst aber warb nicht verliebt; und soweit solches ihm doch einmal wider fuhr, war's eine Ausnahme. Obschon der Liebesgott, stand gerade er, was die Anzahl der Abenteuer betrifft, hinter den übrigen Göttern, sowie hinter den Menschen, weit zurück. Daß er überhaupt sich verliebt hat, hiermit ist zunächst wohl nur ausgedrückt, daß auch er sich der allgemeinen Macht der Liebe gebeugt habe, welche so gewissermaßen eine Macht warb über ihm und außerhalb seiner selbst. Auch ist seine Liebe, wie gesagt, nicht auf das Sinnliche basiert, sondern auf das Seelische.
(Erst eine spätere Zeit hat ihn in die verschiedensten Situationen zur Psyche, der Personifikation der menschlichen Seele, gebracht, letztere darstellend unter dem Bilde des Schmetterlings, oder als zartes Mädchen mit Schmetterlingsflügeln.) Es ist ein echt griechischer Gedanke, daß der Gott der Liebe selbst nicht verliebt ist, während alle andern ihm verdanken, dies zu sein. Dächte ich mir einen Gott oder eine Göttin der Sehnsucht, so wäre es echt griechisch, daß, während alle, welche der Sehnsucht süßen Schmerz und Unruhe kannten, sie auf diese Gottheit zurückführten, diese selbst von Sehnsucht nichts wüßte.
Dieses Verhältnis dürste man füglich als das Gegenteil eines repräsentativen Verhältnisses bezeichnen.
Wo ein solches besteht, da erscheint alle Kraft konzentriert in einem Individuum; nur soweit die übrigen dessen Lebensäußerungen mit ihrer Teilnahme begleiten, partizipieren sie an der so konzentrierten Kraft.
Ich könnte auch sagen, jenes Verhältnis sei das gerade Gegenteil desjenigen, das der Inkarnation zu Grunde liege. Hier trägt das einzelne Individuum in sich selbst die ganze Lebensfülle, welche für die übrigen Individuen nur vorhanden ist, wiefern sie dieselbe in ihm anschauen und also sich zu Gemüte führen. Im griechischen Bewußtsein steht die Sache gerade umgekehrt. Der Gott (Eros) teilt seine Kraft der ganzen übrigen Welt mit, während sie in ihm selbst nicht vorhanden ist. Demnach gilt die Sinnlichkeit nicht als Prinzip im Griechentume, ebensowenig das darauf basierte Erotische als göttlich waltendes Prinzip; jedenfalls wohnt dem griechischen Bewußtsein nicht die Stärke bei, das Ganze in einem einzigen Individuum zu konzentrieren; sondern es strahlt hier von einem Punkte, der es selbst nicht besitzt, auf alle andern über, so daß dieser zentrale Punkt daran beinahe kenntlich ist, daß ihm allein nicht eignet, was es doch allen andern spendet.

Also ist es das Christentum, durch welches die Sinnlichkeit, oder Sinnenlust, ebenso wie das sinnliche Erotische, erst als ein Prinzip hingestellt ist; auch die Idee der Repräsentation ist erst durch das Christentum in die Welt eingeführt worden. Denke ich mir nun das Sinnlich-Erotische als ein Prinzip, eine Kraft, ein Reich (durch den Geist soweit bestimmt, als dieser es eben verneint und ausschließt), denke ich es mir in einem Individuum konzentriert: alsdann geht mir die Idee einer sinnlicherotischen Genialität auf. Dieses ist eine Idee, welche das Griechentum nicht befaß, welche erst das Christentum, ob auch nur in indirektem Sinne, aufgebracht hat.

Fordert nun diese sinnliche, erotische Genialität in aller ihrer Unmittelbarkeit einen leibhaften Ausdruck, so fragt sich, welches Medium sich dafür eigne, wohlgemerkt so, daß jene eben in ihrer Unmittelbarkeit zum Ausdruck und zur Darstellung komme. In ihrer Mittelbarkeit nämlich und, wenn in einem andern reflektiert, fällt sie dem Dominium der Sprache anheim und unterliegt von nun an ethischen Bestimmungen. In ihrer Unmittelbarkeit kann sie nur mittels der Musik ausgedrückt werden.
(Der Leser erinnere sich an etwas in der »nichtssagenden Einleitung« Gesagtes.)
Hierbei zeigt sich die Bedeutung der Musik in ihrem vollen Werte; und diese tritt in strengerem Sinne als christliche Kunst auf, oder richtiger als die Kunst, welche das Christentum zwar einsetzt, aber wiefern? Sofern es dieselbe als Medium dessen, was das Christentum nur zur Sprache bringt, um es zu negieren, geradezu von sich ausschließt und verwirft. Mit andern Worten, die Musik ist das Dämonische. In der erotisch-sinnlichen Genialität hat die Musik ihren absoluten Gegenstand. Hiermit soll nun natürlich keineswegs gesagt werden, daß die Musik nicht auch andres ausdrücken könne; aber ihren ihr eigentümlichen Gegenstand findet sie doch nur hierin. So mag die Bildhauerkunst viel andres darstellen können, außer der menschlichen Schönheit; und dennoch bleibt diese ihr vollkommen entsprechender Gegenstand. In dieser Hinsicht gilt es, die eigentliche Bestimmung jeder Kunst ins Auge zu fassen, und sich nicht irre machen zu lassen, was sie etwa sonst kann. Das Wesen des Menschen ist Geist; und daß er übrigens auch ein Zweifüßer ist, darf dich nicht weiter aufhalten. Der eigentliche Begriff der Sprache ist der Gedanke; und man lasse sich dadurch doch nicht stören, daß einige empfindsame Leute dafür halten: die höchste Bedeutung der Sprache sei, unartikulierte Laute, wie Ach! und Oh! auszustoßen.

Hier erlaube ich mir wieder ein kleines nichtssagendes Zwischenspiel. Caeterum censeo, daß Mozart unter den klassischen Tondichtern der größte ist, und daß sein Don Juan unter allen klassischen Schöpfungen den höchsten Rang einnimmt.

Was nun die Musik als Medium angeht, so bleibt dieses freilich immer eine sehr interessante Frage. Eine andre Frage ist, ob denn ich im stande sei, etwas Befriedigendes hierüber zu sagen. Ich weiß recht wohl, daß ich mich auf Musik nicht verstehe; ich räume willig ein, nur Laie, keiner der auserwählten Musikkenner zu sein, höchstens einer der »Proselyten des Thores«, welchen ein besonderer, unwiderstehlicher Trieb von weither bis zur »Pforte« des Tempels, aber auch nicht weiter geführt hat. Desungeachtet wäre es doch möglich, daß das wenige, was ich zu sagen habe, mit Wohlwollen und Nachsicht aufgenommen, als eine Wahrheit erkannt würde, wiewohl verborgen unter ärmlichem Kittel. Ich stehe außerhalb der Musik, und von diesem Standpunkte aus betrachte ich sie. Auch so hoffe ich die eine oder andre Erklärung geben zu können, wenn auch die Glücklichen, die ins Heiligtum eingedrungen sind, die Eingeweihten, sie weit besser geben, ja sogar, was ich sage, gewissermaßen viel besser verstehen mögen, als ich selbst. Dächte ich mir zwei Reiche, die aneinander grenzen, mit deren einem ich ziemlich bekannt wäre, während das andre mir völlig unbekannt, ja der Zugang zu jenem unbekannten Reiche mir verwehrt blieb, so wäre ich dennoch im stande, mir eine Vorstellung von demselben zu machen. Ich würde an die Grenze des mir bekannten Reiches wandern, ihr beständig nachgehen; und indem ich dies thäte, würde ich, durch meine Wanderung selbst, die Umrisse jenes Landes beschreiben und so eine allgemeine Vorstellung von ihm gewinnen, obwohl ich niemals meinen Fuß hineingesetzt hätte. Da könnte ich es wohl auch, bei fortgesetzter aufmerksamer Beobachtung, zuweilen erleben, daß, während ich wehmütig in den Grenzen meines Reiches stehe und sehnsuchtsvoll in jenes Land, so nahe und doch so ferne, hinüberschaue, eine einzelne, kleine Offenbarung mir zu teil wird.
Und bin ich mir gleich bewußt, daß Musik eine Kunst ist, die in hohem Grade Studium und Erfahrung erfordert, damit man ein wirkliches Urteil über sie haben könne: doch tröste ich mich damit, daß Diana, welche selbst niemals Mutter geworden, den Gebärenden zu Hilfe kam, ja daß dies ihr eine angeborne Gabe war, also daß sie, in den ersten Augenblicken ihres Daseins, der eignen Mutter, Latona, unter ihren Geburtsschmerzen hilfreich war.

Das mir bekannte Reich, an dessen äußerste Grenze ich mich begeben will, um das der Musik zu entdecken, ist die Sprache. Will man die verschiedenen Medien in einem bestimmten Entwickelungsprozesse ordnen, so wird man auch genötigt, die Sprache und die Musik nahe nebeneinander zu stellen, weshalb man wohl die Musik eine Sprache genannt hat, was mehr ist als nur eine geistreiche Bemerkung. Findet man nämlich an geistreichen Einfällen sein Gefallen, so läßt sich ja auch Skulptur und Malerei als eine Art Sprache bezeichnen, sofern jeder Ausdruck der Idee immer eine Sprache ist: denn zum Wesen der Idee gehört die Sprache. Geistreiche Leute reden daher von der Sprache der Natur; und weichmütige Prediger schlagen ab und zu das Buch der Natur vor uns auf und lesen aus demselben, was weder sie selbst noch ihre Zuhörer verstehen. Stünde es nicht besser um jene Bemerkung, daß die Musik eine Sprache sei, so würde ich dieselbe unerwähnt laufen und gelten lassen für das, was sie ist. Aber so ist's eben nicht. Erst dadurch, daß der Geist in seine Rechte eingesetzt ist, ist es auch die Sprache; kommt aber der Geist zu seiner Bedeutung, so ist hiermit alles, was nicht Geist ist, ausgeschlossen. Aber diese Ausschließung ist die Bestimmung des Geistes; und soweit also das Ausgeschlossene sich geltend machen soll, verlangt es ein Medium, das geistig bestimmt und beherrscht ist; und dieses ist eben die Musik. Aber ein geistig bestimmtes Medium ist wesentlich Sprache; da nun die Musik dieses ist, so hat man mit vollem Rechte sie eine Sprache genannt.

Die Sprache, als das absolut geistig bestimmte Medium, ist das eigentliche und wahre Medium der Idee.
Dies eingehender zu entwickeln, liegt weder in meiner Kompetenz, noch im Interesse gegenwärtiger Untersuchung. Nur eine einzelne Bemerkung, welche mich auf die Musik hinführt, möge hier ihren Platz finden. In der Sprache wird also das Sinnliche, als Medium, zum bloßen Werkzeug herabgesetzt und beständig negiert (bleibt unbeachtet). Anders ist es mit den übrigen Medien. Weder in der Skulptur noch in der Malerei ist das Sinnliche bloßes Werkzeug, sondern ein wesentlich dazugehöriges, soll auch nicht beständig negiert, vielmehr beständig mit gesehen und wohl beachtet werden. Wie seltsam verkehrt wäre die Betrachtung einer Bildhauerarbeit oder eines Gemäldes, wenn ich mich dabei anstrengen wollte, möglichst von dem Sinnlichen abzusehen, wodurch die Schönheit des Kunstwerkes für mich ganz hinfällig würde! In Skulptur, Architektur, Malerei ist die Idee an das Medium gebunden. Daß die Idee hier das Medium nicht zum bloßen Werkzeug herabsetzt, es nicht beständig negiert, hiermit wird zugleich ausgedrückt, daß dieses Medium selbst nicht reden kann. Ebenso verhält es sich mit der Natur. Mit Recht sagt man: die Natur ist stumm, sowie auch die Architektur, die Skulptur, die Malerei; ja, man sage es allen jenen seinen, empfindsamen Ohren zum Trotze, welche angeblich die eine wie die andre können reden hören. Es ist daher eine Thorheit, zu behaupten: die Natur sei an und für sich eine Sprache, geradeso wie es albern wäre, zu behaupten: der Stumme spreche, während jenes nicht einmal in dem Sinne eine Sprache ist, wie etwa die Fingersprache. So ist es dagegen nicht mit der Sprache. Das Sinnliche ist dergestalt zum Werkzeug herabgesetzt, daß es geradezu aufgehoben ist. Gesetzt, ein Mensch spräche so, daß man den Schlag der Zunge u.s.w. hörte, dann würde er eben schlecht sprechen; hörte er in solcher Weise, daß er die Luftschwingungen hörte, anstatt des Wortes, dann würde er schlecht hören; läse jemand ein Buch auf die Art, daß er beständig jeden einzelnen Buchstaben beachtete, dann würde er schlecht lesen. Alsdann eben erscheint die Sprache als das vollkommene Medium, wenn alles Sinnliche darin negiert ist. Dieses gilt auch von der Musik. Das, was eigentlich und hauptsächlich soll gehört werden, macht sich beständig frei von dem Sinnlichen. Daß aber die Musik als Medium nicht auf der Höhe der Sprache steht, daran ist schon früher erinnert worden; und daher habe ich mich auch nicht anders als so ausgedrückt: in gewissem Sinne sei die Musik eine Sprache.

Die Sprache wendet sich an das Ohr. Dies thut kein andres Medium. Das Gehör ist wiederum der am meisten geistig geartete Sinn. Das werden mir, denke ich, die meisten zugeben. Wünscht jemand hierüber nähere Belehrung, so verweise ich ihn an Steffens' Vorrede zu seinen »Karikaturen des Heiligsten«. Die Musik ist, außer der Sprache, das einzige Medium, das sich ans Ohr wendet. Hierin spricht sich weiter eine Analogie aus, und zugleich ein Zeugnis, in welchem Sinne die Musik eine Sprache ist. In der Natur gibt es vieles, was das Gehör trifft; dasjenige aber, was hier das Ohr berührt, ist das rein Sinnliche. Daher nennen wir die Natur stumm; und es ist eine lächerliche Einbildung, daß man etwas (ein ideell Empfundenes, Gedachtes, Gewolltes) höre, wenn man eine Kuh brüllen, oder – was größere Prätention zu machen scheint – eine Nachtigall schlagen hört. Eine Einbildung ist es, zu meinen, das eine habe au und für sich (abgesehen von dem, was wir hineinlegen) höheren Wert, als das andre, während es doch im Grunde alles gleichwertig ist.

Die Sprache hat ihr Element in der Zeit, alle übrigen Medien im Räume. Nur die Musik verläuft gleichfalls in der Zeit. Dieser Umstand ist wiederum eine Negation des Sinnlichen. Was die übrigen Künste hervorbringen, deutet eben dadurch ihre Sinnlichkeit an, daß es alles im Raume fernen Bestand hat. Nun gibt es anderseits vieles in der Natur, was in der Zeitfolge vor sich geht. Wenn z.B. ein Bach rieselt und fort und fort rieselt, so scheint darin eine gewisse Zeitbestimmung zu liegen. Indessen ist eine solche auch vorhanden, so ist sie doch eine räumlich bestimmte. Die Musik existiert nur in dem Augenblicke, wenn sie vorgetragen wird; denn verstände man es immerhin vortrefflich, Notenblätter zu lesen, so wäre, auch bei der lebhaftesten Einbildungskraft, doch nicht leugnen, daß die Musik, während sie gelesen wird, nur im uneigentlichen Sinne gegenwärtig ist. Eigentlich emittiert sie nur, solange Sie ausgeführt wird. Hierin könnte man eine Unvollkommenheit dieser Kunst erblicken, verglichen nämlich mit den andern Künsten, deren Schöpfungen, weil sie im Sinnlichen ihren Bestand haben, beständig bleiben. Jedoch ist dem nicht also. Hierin liegt gerade der Beweis, daß es eine höhere, eine geistigere Kunst ist.

Gehe ich nun von der Sprache aus, um zuletzt mir die Musik gleichsam herauszulauschen, so stellt die Sache sich ungefähr in diesem Lichte dar. Nehme ich an, daß Prosa die von der Musik entlegenste Sprachform sei, so bemerke ich doch schon im oratorischen Vortrage, in dem sonoren Periodenbau, dem Rhythmus und der Kadenz des Satzes, einen Anklang an das Musikalische, welcher im poetischen Vortrage stufenweise immer stärker hervortritt, in dem Bau des Verses, im Reim, bis endlich das Musikalische sich so mächtig entwickelt hat, daß die Sprache aufhört und alles Musik wird. Dies ist ja der Lieblingsausdruck der Dichter, wenn sie ausdrücken wollen, daß sie der Idee gleichsam Lebewohl sagen, welche ihnen ausgehe, daß alles sich in Musik auflöse (»Süße Liebe denkt in Tönen, denn Gedanken sind zu fern«). Hierin könnte nun anscheinend liegen, daß Musik ein noch vollkommeneres Medium sei, als die Sprache. Das ist indessen eins jener empfindsamen Mißverständnisse, wie sie nur in leeren Köpfen aufkommen können. Daß es ein Mißverständnis ist, soll späterhin nachgewiesen werden; hier begnüge ich mich, auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam zu machen, daß, wenn ich mich in entgegengesetzter Richtung bewege, ich wiederum auf die Musik stoße, wenn ich nämlich von der begriffhaltigen Prosa abwärts gehe, bis ich bei Interjektionen anlange, welche wieder musikalisch lauten, sowie auch das erste Lallen des Kindes musikalisch ist. Was ergibt sich nun aber daraus, daß überall, wo die Sprache aufhört, das Musikalische nur begegnet? Dieses ist doch wohl der vollkommenste Ausdruck dafür, daß die Musik überall an die Sprache angrenzt. Hieraus wird man zugleich ersehen, wie es mit jenem Mißverständnis eigentlich bewandt ist, daß die Musik ein reicheres Medium sein solle, als die Sprache. Indem nämlich die Sprache aufhört, die Musik anhebt, indem man sagt, alles sei musikalisch, so Schreitet man nicht zu einer höheren Stufe fort: man geht zurück. Daher rührt es, – und hierin werden mir vielleicht auch Kundige recht geben – daß ich für die sublimere Musik, welche das Wortes nicht zu bedürfen meint, niemals rechte Sympathie gehabt habe. Solche Musik tritt in der Regel mit der Prätension auf, erhabener zu sein, als das Wort, obwohl sie unter ihm steht. Nun könnte man mir freilich einwenden: solle in der That die Sprache ein reicheres Medium sein, als die Musik, wie es alsdann zu begreifen sei, daß es mit so großen Schwierigkeiten verbunden ist, eine ästhetische Rechenschaft von allem Musikalischen abzulegen, zu begreifen, daß die Sprache sich hierbei stets als ein ärmeres Medium erweist, als die Musik? Dieses ist indes weder unbegreiflich, noch unerklärlich. Die Musik bringt nämlich beständig das Unmittelbare in seiner Unmittelbarkeit zum Ausdruck. Daher kommt es denn, daß die Musik im Verhältnis zur Sprache sowohl vorhergeht als nachfolgt, als Erstes und als Letztes sich zeigt; aber gerade daraus erhellt es auch, daß es ein Mißverständnis ist, zu sagen: die Musik sei ein vollkommeneres Medium. Der ausgebildeten Sprache liegt die Reflexion zu Grunde; deshalb vermag die Sprache nicht, das Unmittelbare auszusagen. Die Reflexion tötet das Unmittelbare; daher ist es unmöglich, das Musikalische in der Sprache auszusagen. Aber diese anscheinende Armut der Sprache ist gerade ihr Reichtum. Das Unmittelbare ist nämlich das Unbestimmbare; darum kann die Sprache es nicht in sich aufnehmen. Daß es aber das Unbestimmbare ist, hierin besteht nicht seine Vollkommenheit, vielmehr ein ihm anhaftender Mangel. Indirekterweise wird dies vielfach anerkannt. Wie häufig gebraucht man, auch wo von Dingen die Rede ist, die mit dem Musikalischen nichts zu thun haben, ein von der Musik entlehntes Wort, z.B. Ton (Tonart), Tempo, Takt, Harmonie u. a., und zwar, um etwas Unmittelbares, Unbestimmbares, ja Dunkles, mehr Geahntes als Bewußtes zu bezeichnen!

Ist also das Unmittelbare, geistig bestimmt und beschrieben, dasjenige, was eigentlich im Musikalischen zum Ausdruck kommt; so erhebt sich die weitere Frage, was für eine Art des Unmittelbaren es sei, welche wesentlich den Gegenstand der Musik bildet. Es gibt Unmittelbares, was seiner Natur nach in den Bereich des Geistes gehört. Solches kann dann freilich seinen Ausdruck auch im Musikalischen finden; allein die Musik bewegt sich hier im Grunde auf einem fremden Gebiete: sie bildet ein Vorstiel, welches bald wieder verstummt, woraus folgt, daß jenes nicht der absolute Gegenstand der Musik sein kann. Ist dagegen ein Unmittelbares derart, daß es an sich nicht innerhalb, sondern außerhalb des Geistes fällt, so findet hier die Musik ihren absoluten, ihr von Hause aus zugehörigen Gegenstand. Für jene erstere ist es etwas Unwesentliches, daß es musikalischen Ausdruck erhält, während es für dasselbe wesentlich ist, bewußter Geist zu werden und also in menschlicher Sprache dargestellt zu werden. Für das andre ist es im Gegenteil wesentlich, in Musik seinen Ausdruck zu erhalten; ja es kann allein in dieser, nicht in der Sprache ausgedrückt werden, außerhalb deren es sich bewegt. Dasjenige Unmittelbare, das somit vom Geiste ausgeschlossen wird, ist die sinnliche Unmittelbarkeit. Diese wird als solche erst erkannt und gewogen im Christentume. Sie hat in der Musik ihr absolutes Medium; und hieraus läßt sich auch erklären, daß in der alten Welt die Musik keine eigentliche und völlige Entwickelung erlebt hat, sondern daß diese der christlichen zu eigen gehört. Natürlich kann die Musik noch vieles andre ausdrücken; aber jenes unmittelbar Sinnliche ist ihr absoluter Gegenstand.
Daß die Musik ein sinnlicheres Moment ist, als die Sprache, erkennt man schon daran, daß in jener auf den sinnlichen Laut und Schall ein viel größeres Gewicht gelegt wird, als in der Sprache.

Der absolute Gegenstand der Musik ist also sinnliche Genialität. Diese ist durch und durch lyrisch; und gerade in der Musik kommt sie in ihrer ganzen lyrischen Ungeduld zum Ausdruck. Sie ist ja unter die Macht des Geistes gestellt, und daher Kraft, Leben, Bewegung, stete Unruhe, beständige Succession. Diese Unruhe aber, diese Succession bereichert sie nicht: sie bleibt beständig dieselbe, ohne sich zu entfalten; sondern ununterbrochen stürmt sie in einem Atemzuge weiter. Sollte ich dieses ihr lyrisches Wesen mit einem einzigen Prädikate bezeichnen, so möchte ich sagen; sie tönt! Und hiermit bin ich dann wieder auf die sinnliche Genialität als diejenige zurückgekommen, die sich unmittelbar musikalisch offenbart.

Daß selbst ich über diesen Punkt noch manches zu sagen hätte, weiß ich; daß es für die Männer von Fach etwas Leichtes wäre, alles in ganz anderer Weise ins Reine zu bringen, davon bin ich überzeugt.
Da indessen meines Wissens niemand den Versuch oder nur Miene dazu gemacht hat, da man beständig nur wiederholt: Mozarts Don Juan sei die Krone aller Opern, ohne näher zu erörtern, was man hiermit meint, obgleich doch alle etwas mehr sagen wollen, als daß ein qualitativer Unterschied zwischen dieser und allen modernen Opern statthabe – etwas mehr, was doch wohl in nichts anderem zu suchen ist, als in dem absoluten (vollentsprechenden) Verhältnisse zwischen Idee, Form, Stoff und Medium – da dies, sage ich, sich also verhält, so habe ich das Schweigen gebrochen. Vielleicht wäre die Sache mir besser geraten, wenn ich noch etwas gewartet hätte – jedenfalls habe ich nicht darum geeilt, weil ich besorgte, ein besserer Kenner könnte mir zuvorkommen; nein, sondern weil ich fürchtete, daß, wenn ich schwiege, die Steine anheben würden, zu Mozarts Ehre zu schreien, zur Beschämung jedes Menschen, dem zu reden gegeben ist.

Das bisher Gesagte sollte hauptsächlich dazu dienen, den Weg zu bahnen zur Bezeichnung der unmittelbar-erotischen Stadien, wie wir nämlich diese bei Mozart kennen lernen. Zuvor bitte ich eine Thatsache anführen zu dürfen, welche von einer andern Seite her auf die wesentliche Verbindung zwischen Sinnlicher Genialität und dem Musikalischen hinweisen kann. Bekanntlich ist die Musik, wie sie eben gehandhabt wurde, von den religiösen Eiferern allezeit mit mißtrauischer Aufmerksamkeit verfolgt worden. Ob man hierbei im Rechte war, oder nicht, beschäftigt uns jetzt nicht; denn dies wurde nur religiöses Interesse haben. Dagegen ist es nicht ohne Bedeutung, auf die dazu bestimmenden Motive zu achten. Im allgemeinen kann man den geschichtlichen Gang der Bewegung so beschreiben: je strenger die Religiosität, desto ablehnender verhält man sich zur Musik, desto mehr wird dagegen das Wort hervorgehoben. Die verschiedenen Stadien dieser Agitation sind weltgeschichtlich markiert. Das letzte der Stadien schließt die Musik gänzlich ans und hält allein aufs Wort. Anstatt das Gesagte mit einer Anzahl von Notizen auszuschmücken, will ich nur eine kurze Äußerung eines Presbyterianers anführen, welche in einer Erzählung Achims von Arnim vorkommt: »Wir Presbyterianer halten die Orgel für des Teufels Dudelsack, womit er den Ernst der Betrachtung in Schlummer wiegt, sowie der Tanz die guten Vorsätze betäubt.« Dieses mag als eine Replik instar omnium gelten.
 – Welches Motiv kann man denn haben, die Musik zu bannen, um dadurch dem Worte die Alleinherrschaft zu übertragen? Daß das Wort, wo es mißbraucht wird, die Gemüter ebenso wohl verwirren kann, wie Musik, geben gewiß auch alle Sekten zu. Es muß also zwischen beiden ein qualitativer Unterschied stattfinden. Was aber die religiöse Idee ausgedrückt haben will, ist Geist; daher fordert sie die Sprache, als das eigentliche Medium des Geistes, und verwirft die Musik, welche diesem ein sinnliches, insofern immer unvollkommenes Medium ist, um dadurch auszudrücken, was des Geistes ist. Ob nun die religiöse Idee berechtigt sei, die Musik auszuschließen, das ist, wie gesagt, noch fraglich; dagegen kann ihr Urteil über das Verhältnis der Musik zur Sprache vollkommen richtig sein. Jene braucht nämlich darum nicht eben ausgeschlossen zu werden; man muß oder einsehen, daß sie auf dem Gebiete des Geistes ein unvollkommenes Medium ist, daß sie also in dem wesentlich Geistigen nicht ihren absoluten Gegenstand haben kann. Hieraus folgt keineswegs, daß man sie als Teufelswerk anzusehen hat, auch wenn unsre Zeit manche abschreckende Zeugnisse her dämonischen Macht aufweisen sollte, mit welcher die Musik ein Individuum ergreifen, und dieses Individuum wiederum die Menge, namentlich die weibliche, in die unheimlichen Bande der Seelenangst hineinziehen, oder mit der ganzen aufregenden Macht der Wolluft umspannen und fesseln kann. Man braucht sie noch nicht zu den Teufelskünsten zu zählen, selbst wenn man mit einem gewissen Grauen die Beobachtung macht, daß diese Kunst, mehr als irgend eine andre, ihre Jünger rasch aufzureiben pflegt – ein Phänomen, das, auffallend genug, der Aufmerksamkeit selbst der Psychologen, vollends her großen Menge entgangen zu sein scheint, ausgenommen, wenn im einzelnen Falle die Leute durch den Angstschrei einer verzweifelten Seele, die Kunde von einem Selbstmorde, aufgeschreckt werden. Indessen ist es merkwürdig genug, daß in den Volkssagen, also im Volksbewußtsein, dessen Ausdruck die Sage ist, das Musikalische wieder die Rolle des Dämonischen spielt. Beispiele findet man u. a. in
Grimms Irischen Elfenmärchen (1826) S. 25, 28, 20, 30.

Was nun die unmittelbar-erotischen Stadien betrifft, so verdanke ich, wie gesagt, Mozart alles, was ich darüber mitteilen kann. Da jedoch die Zusammenstellung, die ich hier versuchen will, nur indirekt, mittels einer Kombination des Geistes, auf ihn zurückgeführt werden kann, so habe ich zuvor mich geprüft, ob ich in irgend einer Hinsicht mir selbst oder einem Leser die bewundernde Freude an Mozarts unsterblichen Arbeiten stören könnte. Wer Mozart in seiner wahren, unsterblichen Größe sehen will, muß sich in den Genuß seines Don Juan versenken, welchem gegenüber alles andre zufällig, unwesentlich ist. Betrachtet man nun den Don Juan so, daß man Einzelheiten aus den andern Mozartschen Opern (um von seinen übrigen Werken zu schweigen) gleichfalls unter diesem Gesichtspunkte sieht, so wird man, wie ich überzeugt bin, weder den Meister verkleinern, noch sich selbst oder seinem Nächsten dadurch einen Schaden zufügen. Man wird alsdann Gelegenheit finden, sich darüber zu freuen, daß das, was die eigentliche Potenz der Musik ausmacht, in Mozarts Musik erschöpft ist.

Wenn ich übrigens im vorhergehenden den Ausdruck: Stadium gebraucht habe und im folgenden dabei beharren werde, so darf er nicht dermaßen urgiert werden, als ob jedes derselben selbständig für sich existierte, das eine außerhalb des andern. Treffender wäre vielleicht die Bezeichnung: Metamorphose.
Die einzelnen Stadien sind vielmehr Offenbarungen eines und desselben Prädikates (der Unmittelbarkeit), also daß sie alle zuletzt in das eigentliche, höchste Stadium aufgehen. Diesem gegenüber tragen sie den Stempel der Zufälligkeit. Da sie indes einen besondern Ausdruck in Mozarts Musik gefunden haben, so werde ich sie einzeln erwähnen. Daß man nur nicht dabei an verschiedene Bewußtseinsstufen denke! Nein, sogar das letzte Stadium ist noch nicht ins Bewußtsein getreten. Hier ist beständig nur vom Unmittelbaren die Rede.

Die Schwierigkeiten, denen immer derjenige begegnet, der Musik zum Gegenstande ästhetischer Betrachtung machen will, bleiben natürlich auch hier nicht aus. Die Schwierigkeit, mit der ich im vorhergehenden zu kämpfen hatte, lag vornehmlich darin, daß, während ich auf dem Wege des Gedankens beweisen wollte, daß sinnliche Genialität der wesentliche Gegenstand und Inhalt der Musik sei, dieses doch eigentlich nur durch Musik selbst bewiesen werden kann, sowie ich ja persönlich auch nur auf diesem Wege zu solcher Erkenntnis gekommen bin. Die Schwierigkeit, mit der der Nachfolgende zu kämpfen hat, besteht zunächst darin, daß, was die Musik ausdrückt, hier mit Worten beschrieben werden soll, und doch die Sprache dazu so dürftig ist im Vergleiche mit der Musik, welche dasselbe weit vollkommener vermag. Ja, hätte ich mit verschiedenen Bewußtseinsstufen zu thun, alsdann bliebe natürlich der Vorteil auf meiner Seite und derjenigen der Sprache; aber das ist hier eben nicht der Fall. Was also im folgenden erörtert wird, hat nur Bedeutung für den, welcher gehört hat und auch ferner hören will. Für diesen kann es vielleicht diesen und jenen Wink enthalten, der ihn ermuntern kann, wieder und wieder zu hören.

 

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